Trinität im Gesicht – Maske tragen in Alltag, Popkultur und Trinität

Wir tragen jetzt Masken. Auf der Straße und in der Kirche. Aber ich bin im letzten Vierteljahr von so vielen Veränderungen überrollt worden, dass ich noch gar nicht die Zeit hatte, mich hinzusetzen und diesen Satz anzuschauen und zu überlegen, was das eigentlich mit mir macht. Und was da aus meinem Pop- und Bildgedächtnis mitschwingt. Und was das dann wiederum mit mir macht.

Wir tragen jetzt Masken.

Und offenbar retten uns die Masken. Das sagen zumindest gerade alle, nachdem das RKI erst gesagt hat, die bringen nichts. Jetzt bewahren uns die Masken vor der unbekannten aerosolen Gefahr in der Luft. Jedes Mal wenn ich jemanden mit Maske sehe, gehe ich extra weit um sie oder ihn herum. Dann springt dieser ganze Virenwahnsinn wieder in den Vordergrund meines Bewusstseins.

Horror Vacui Personae

Einige haben schon längst Masken in den liturgischen Farben gekauft oder genäht oder wahrscheinlich nähen lassen, andere haben Sprüche draufgedruckt: Du bist schön! Oder #gesegnet. Erstaunlich, dass ich noch keinen Nike-swoosh gesehen habe. Die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche hat ihre Kirchenfenster auf diese Stoffmasken drucken lassen. Sieht ein kleines bisschen aus wie Zähne von weitem. Von Nahem macht es den unteren Bereich des Gesichts zum Fenster. Nicht mehr die Augen sind das Fenster zur Welt, sondern die Maske. Nur die Maske ist geschlossen.

Ich finde gerade die einfache Wegwerf-OP-Maske ist wohl DAS Symbol für diese Pandemie. Ubiquitär. Klinisch-blau. Kapitalistisch: erst rar und überteuert, jetzt marktüberschwemmend. DAS gefragte Gut, DIE Eintrittskarte in Supermärkte, auch für mit den Security-Leuten wetternde Verschwörungsleute. Da macht es Sinn, dass Menschen auch damit kreativ umgehen. Und sie zum Ausdruck ihrer Persönlichkeit machen. Jugendliche haben schnell herausbekommen, wie man mit Maske entspannt, elegant und souverän auftreten kann. Brautaustatter brillieren weiße Masken mit Steinen und Perlen für das hygienisch sichere Ja-Wort.

Denn die Maske bringt Leere ins Gesicht und versteckt zwei Drittel von dem, was wir von Kindheit auf gelernt haben bewusst und unbewusst zu deuten an unserem Gegenüber. Sie entmenschlicht. Denn das Angesicht des Gegenübers, so hat das Immanuel Levinas, grob gesagt, entwickelt, stellt an uns einen transzendenten, unhintergehbaren ethischen Anspruch: Ich bin ein Mensch wie Du, Du musst Dich um mich kümmern. Nicht mehr mit der Maske. Die macht es handhabbar, die ist Erfüllungsgehilfe im Abstoßen und Wegdrängen des und der anderen.

Pop-Masken, eine kurze Genealogie der Entmenschlichung

Masken entmenschlichen. Darth Vader als böser Urvater braucht seine Fetischmaske als Beatmung und um seinen Rest Menschlichkeit zu verstecken. In der ultragewalttätigen Videospielserie Mortal-Combat trägt Sub-Zero eine Maske, offenbar, weil er nicht einfach normale Luft atmen kann. Genauso wie Darth Vader also. Michael Myers aus Halloween, Jason Vorhees aus Freitag der 13, Ghostface, Fantomas, Dr. Doom, der Joker am Anfang von The Dark Knight, der Winter Soldier aus Captain America und Boba Fett aus The Mandalorian und dem breiteren Star-Wars-Franchise – genauso wie alle Ninjas und Attentäter und Bankräuber wie die mit Präsidentenmasken aus Gefährliche Brandung – tragen Masken, weil sie schlicht nicht erkannt werden wollen.

Die Masken der Bösen bedecken das ganze Gesicht oder den Mund. Komischerweise tendieren die guten und die Superhelden dazu, dass sie den Mund freilassen. Die Ganz- oder Mund-Masken machen die Bösen mächtiger, unzugänglicher, mysteriöser und anonymer. Sie entkleiden sich der Menschlichkeit als Schwäche, indem sie ihr Gesicht bedecken. Aber eine Maske, finde ich, geht noch mehr in die Tiefe.

Keiner Interessierte sich dafür, wer ich war, bevor ich die Maske bekam.

Bane sagt das. Oder eigentlich Tom Hardy, in the Dark Knight Rises. Damit legt er eine Spur, die ich für ein paar theologische Überlegungen zur Maske hilfreich finde. Denn die Maske ist eine neue, andere Art, sich selbst zu verstehen, gesehen zu werden und auf andere zu wirken. Im Guten wie im Schlechten.

Auch für Bane geht es beim Maske tragen um Atem und Versorgung mit Luft. Er braucht nach einer Veränderung seines Körpers aber auch Chemikalien, um weiter zu existieren. Für ihn wie für Vader und Sub-Zero ist die Maske lebenserhaltend und lebenswichtig. Dazu gibt sie ihm Kraft und macht anderen Angst.

Aber sie gibt ihm auch eine neue Persönlichkeit. Bane, Vader und Sub-Zero als Person gibt es nur mit Maske, sonst sind sie jemand anderes. Wie übrigens auch die media personas (engl.), die Scheinpersönlichkeiten im Internet, die es hinter der äußeren Fassade nicht weitergibt.

The 20 Most Iconic Villain Masks in Movie History

From Visually.

Eine Schicht mehr – Identität, Person, Trinität

Jetzt greife ich kurz in die etymologisch-theologische Mottenkiste. Persona kommt von personare, also durchatmen. Es wird auch auf das griechische proposon zurückgeführt, das Wort für Maske, Gesicht oder Angesicht, für die Rolle im Leben, die Amtsstellung oder gerade die Rolle im Theater. Die Person ist das Durchtönen von Schauspielenden durch seine Maske, bzw. durch seine Rolle hindurch – im Leben wie auf der Bühne, bzw. wurde beides nicht wirklich unterschieden.

In Gottes Drama, Gottes Stück, das er mit uns Menschen aufführt, kriegen auch wir Masken zugeordnet, in die wir reinwachsen und die wir ausfüllen lernen, hinter und in denen wir unsere Persönlichkeit entwickeln. So entwickelt das z.B. Hans-Urs von Balthasar. Sie ist der Ruf Gottes in ein Leben mit Christus, eine Rollenzuweisung, in der wir erst wir werden.

Noch weiter unten in der theologischen Kiste haben Tertullian und Boethius in der Entwicklung der Trinität das Wort persona verwendet als so etwas wie den Kern, die individuelle Substanz der Vernunft. Die Masken-Rolle macht aber zugleich deutlich, dass wir immer sind, als wer wir in Kontakt treten, in Relation kommen mit anderen. Deswegen hat der personale Gott auch eine Beziehung zu uns. Deswegen ist Gott nur Gott in dreieiniger Gemeinschaft und in Beziehung zu uns.

Gott wirkt in drei Personen, Vater, Sohn und Heiliger Geist auf uns. Una substantia, tres personae. Ein gemeinsames Kernding, aber auch drei auffächerbare und erlebbare Masken-Rollen-Personen. Folgt man Richard Weihe (Die Paradoxie der Maske, München 2004), entlehnt Tertullian damit die Grundlage für die Trinität aus der Karthager Theaterwelt. Diese Kontaktfläche mit der Welt, die Personen-Maske hält Gott sich also vors eigentliche Gesicht. Damit ist auch Gott in der theatralisch bestimmten Trinität, wie die Helden und die mächtigen Bösewichter, maskiert und das dreimal. Aber nicht zur Abschreckung oder weil er anders nicht leben kann, sondern als Kontaktaufnahme. Ganz kommen wir nicht an ihn ran, da bleibt etwas Unnahbares, sich Entziehendes.

Aber der maskierte Gott ist das liebevoll und paradoxerweise gerade offen, denn die Maske, die schiere Notwendigkeit einer Maske zeigt doch eines an Gott und an uns: Sie zeigt wie verletzbar wir Dahinter sind. Wie angreifbar Menschlichkeit und Göttlichkeit hinter den Rollen und Schutzschichten und Kontaktflächen sind. Und nicht ohne sie können.

Mit unseren Masken teilen wir diese Erfahrung gerade besonders greifbar. Wir haben eine materiell-sichtbare Schicht mehr hinzugefügt: Zu unserem Gesicht, das selbst eine riskante Kontaktschicht ist, hinter der transzendent der Mensch, das Individuum, was auch immer wir als Kern haben – vielleicht gibt es den so unveränderlich aber auch gar nicht – sich verbirgt und pulsiert und fordert und liebt und durchatmet.

Die OP-Maske macht das ganz kaltblütig und direkt klar, pure funktionale Verletzlichkeit, das macht die Maske sichtbar. Die kreativen Do-it-yourself-Masken mischen mehr Menschlichkeit mit der Kontaktfläche, sie nehmen Kontakt auf, individualisieren.

Auf diese Weise macht das Maskentragen uns also doch, paradoxerweise, im Moment menschlicher. Die Rolle und das Gesicht, das wir sonst für das echte Ich halten, werden so durch eindeutig und nicht anders erkenntliche gleichmachende Außenflächen verdeckt und entlarvt. Die neue Schicht lässt uns eine seltsame Trinität der Krise am Kopf tragen: Außenschutz, Gesicht, Augen und Atem die durchblitzen und dahinter die Individualität, Bewusstsein, Transzendenz des Gegenübers.

Damit hat das Maskentragen auch eine theologische Dimension, die über die Defizienz hinausgeht, die es noch weiter zu erforschen und zu entwickeln gilt.

Chang-Hee Son (Haan of Minjung Theology and Han of Han Philosophy, Oxford 2000) schreibt über den koreanischen Haan-Maskentanz, dass sich in ihm Theologie zeigt, vielleicht wie in unserem Maskentragen im Gottesdienst wie im Laden. Wir machen das ja aus Liebe und Schutz und Angst, aus theologischen Kern-Beweggründen. Theologie ist dann der Umgang mit Gesichtern, von Körpersprache und der Semantiken des ganzheitlichen Wahrnehmens anderer. Der spielerische Umgang mit Masken ermöglicht, die Wirklichkeit zu wechseln und eine kritische Transzendenz zu entwickeln, als Schutz und aber eben gerade als Spiel. Wenn wir das also mehr ausbauen, die Maske als experimentelle Schicht, und tragbarer Gegenwartskommentar und weiter Kreativität zu Schutznotwendigkeit hinzufügen, können wir das Symbol für die Pandemie vielleicht auch für die Zeit danach verändern und verschönern.

Sing like nobody is watching – Potentiale des neuen Online-Gesangs

Nicht erst jetzt nach diesem komischsten Kantate der Kulturgeschichte, sondern schon davor war mir unsauberer und etwas schiefer Gemeindegesang wichtig und lieb (wer dazu mehr lesen will: hier). Ich finde, er ist das partizipatorischste, was wir im Gottesdienst machen und auch super-reformatorisch. Das Vermischen von Stimmen und die Möglichkeit innerhalb einer gemeinsam aus Vielfalt erzeugten Klanggestalt auch mal abzuweichen und sich auszuprobieren, wenn man sich ein bisschen unter der Führung von der Orgel oder anderen Sängern verstecken und dann aber auch wieder neu hervortreten kann – darin kann man Gemeindesein akustisch ausprobieren.

Das alles traf am Sonntag Kantate auf die neue Wirklichkeit. Einige Gemeinden ließen sich das Singen nicht nehmen. Nicht von den Vorgesetzten. Nicht von den Vorsichtigen. Dabei sind offenbar wirklich viele Todesfälle auf Chorproben gerade auch von Kirchenchören zurückzuführen. Und die perfekt-reinen Vorträge von anderen Solist*innen und Ensembles sind für mich nicht nur deswegen kein Ersatz, weil man nicht mitmachen darf, sondern eben gerade weil sie so verdammt perfekt sind. Ich mag es schmuddelig-gemeindeschief-folklorig. Sodass in jeder Gemeinde die Lieder auch ein bisschen anders falsch gesungen werden und man eine eigene Klang-Identität weiterträgt im Singen.

Die neue Wirklichkeit ohne analogen Gesang

Oder eben gerade jetzt nicht mehr. Denn: Singen trifft auch auf die harten Worte des RKI, die neue Wirklichkeit:

„Eine (nicht-systematische) Übersichtsarbeit hat anschaulich dargestellt, wie sich von Menschen abgegebene Partikel (Erreger-unspezifisch) in Räumen verteilen und zu aerogenen Übertragungen führen können (10). Weitere Studien schlussfolgerten, dass Singen in der Gruppe zu Übertragungen geführt haben könnte, was sowohl auf Tröpfchen- als auch aerogene Übertragung schließen lässt (11, 12).“

Was uns das Digitale am Singen zeigen kann

Gerade jetzt noch, wo der Gesang im Kirchenraum und gemeinsam nicht erlaubt ist, will ich die Chancen von digitalem Singen mal pushen und betonen. Realistischerweise fühlt es sich gerade so an, als würde dieser Erfahrungsschatz aus Online-Zoom-Chorproben und anderen Videokonferenz-Projekten es nicht in die nächste Runde schaffen. Das fände ich schade, es ist aber umso wahrscheinlich als unstrittig das gemeinsame Live-Singen so wichtig und urprotestantisch ist. Deswegen will ich hier eine Wegmarkierung setzen, wo wir kurz vor und kurz nach Kantate 2020 mal waren. Und ich bin gespannt, wie ich das selbst später wieder lese. Drei Punkte will ich hervorheben. Also wie immer, nicht die Defizite, sondern auch die Chancen medialer Veränderung markieren.

Neues Wissen, Wenn die AI entscheidet, wer singt

Erstens, das Problem – oder, das wäre meine Argumentation: das Interessante – am gemeinsamen Singen bspw. über Zoom ist, dass sich die Software für eine dominante Stimme entscheidet und die anderen dafür ausblendet. Wenn also alle gleichzeitig singen, entscheidet eine Software-Routine, wer zu hören ist – und nicht die Mikrophon-Anlage in der Kirche. Technologie sorgt für eine neue Demokratisierung von tonaler Dominanz einer gemeinsamen Praxis.

Sing like nobody’s watching

Zweitens, viele Menschen, die an Online-Chor-Proben oder Gesangstreffen teilgenommen haben, fühlen, wie komisch das ist, wenn der/die Chorleiter*in oder jemand anders vorsingt, sie selbst aber auf stumm geschaltet in einem vielleicht leeren Raum dann irgendwie doch für sich alleine singen. Und bei weitem nicht alle finden das schlimm. Viele berichten sogar, dass sie sich trauen, jetzt viel mehr und manche zum ersten Mal, richtig laut mitzusingen. Richtig befreit fühlen sie sich. Zugegeben, bei den Gospel-Chor-Online-Zoom-offenen-Sing-Proben, bei denen ich experimentell mal mitgemacht habe, braucht es schon ein bisschen Zeit, um da reinzukommen. Aber es geht. Und es ist ein anderes Singen. Ein Duett mit zwei Stimmen und vielen Mündern, die sich stumm mitbewegen. Was sagt uns das über die normale Gesangspraxis? Es ist Zeit genauer zu schauen, wen wir sonst mit schwierigen oder aufwändigen Gesangsformen eigentlich ausschließen, und zwar schon lange, schon immer und regelmäßig. Junge und alte Menschen, die stimmliche Veränderungen durchmachen, Menschen mit gebrochenen Stimmen u.v.a. Das muss ja nicht so weiter gehen, oder?

Zoom-Droning als inklusives Musicking

Drittens, wie Zoom-Gesang Anstöße zu noch mehr Inklusion geben kann, zeigt das Beispiel des Music Centres der Winchester Cathedral mit einem eigenen ZOOM Peace Choir. Gegenüber vielen Ensemble-Lösungen, bei denen Menschen einzelne Clips aufnehmen und zusammen schneiden hat Prof. June Boyce-Tillman durch Musikmachen (musicking), die Technologie als intrinsischen Bestandteil einbezieht, herausgefordert. Zufall spielt eine Rolle und die Latenz, also die technologische Verzögerung der Geräuschübertragung, die Chorproben sonst so problematisch machen, werden hier zum Bestandteil der Praxis.

Der ZOOM Peace Choir benutzt dafür die Gesangstechnik des Droning, also des dröhnend-summenden Gesangs. Der ist ganz einfach und partizipativ und er zeigt eben ganz besonders, was dazu kommende Technologie an der menschlichen Stimme verändert, wenn sie Teil der Performance wird. Wenn wir sonst in der Kirche Übertragungstechnologien wie Mikrophone etc. benutzen, verstecken wir diese Technik lieber, zumindest in der Landeskirche. Jetzt könnten wir mal mitreflektieren, dass sie eigentlich die akustischen Machtverhältnisse im Gottesdienst bestimmen und die reine Stimme der Profis übertragen und die der Gemeinde ausblenden.

Teilnehmende des ZOOM Peace Choir berichten, dass sie auf ganz neue Weise singen gelernt haben. Sie haben verlernt, was sie über Chorsingen und die Disziplin, die damit einhergeht, für Singen hielten. Sie wurden selbstsicherer in Ihrem Gesang, sie mussten nicht darauf achten, was andere von ihnen hören oder Perfektion abliefern. Ein Teilnehmer schreibt:

Zuerst war es seltsam. Ich musste meiner eigenen Stimme zuhören. Ich dachte, ich werde das wohl nicht hinkriegen, aber ich wurde immer sicherer beim weiteren Singen und dann wollte ich nicht mehr, dass es aufhört. Ich hab selbst mehr improvisiert. Ich fühlte mich verbunden mit der ganzen Welt. Es war eine gute Erfahrung.

Mindestens das Droning als Ersatzpraxis hinter Masken (besser als Nachsummen, was man nicht Singen darf und mit eigenem Praxisbestand und Erfahrungsraum) können wir doch bestimmt in die Praxis mitnehmen, auch wenn die Online-Chöre wieder verschwinden. Oder vielleicht bleiben sie auch – wer weiß. Und der theologische Unterbau fällt auch nicht schwer: Stimmliche Kaputte, die zusammen schief singen, passen besser zur Kirche des verletzten Auferstandenen als reine triumphalistische Reinmusik-Klänge, oder?

Show-Frömmigkeit? Freud und Leid am neuen kirchlichen Massen-Content

Zugegeben, ich finde auch, Pfarrerinnen und Pfarrer sind in einen Online-Aktionismus verfallen, im Bespielen von eiligst ausgehobenen YouTube-Kanälen und mittelprächtigen Instagram-Aktionen. Das bin ich auch. Ich glaube aber das ist okay und es ist möglich daraus zu lernen. Das ist übrigens kein binnenkirchliches Phänomen, das ist ein geistes- und kulturwissenschaftliches Schreien um Hilfe und Relevanz.  Künstler*innen und Kulturschaffende müssen genauso ihre Systemrelevanz beweisen. Nur bei denen hängt die öffentliche Förderung an ihrer Relevanz, die Existenz, nicht nur das Selbstverständnis. Was mich aber wirklich ärgert, und nicht nur nachdenklich macht, ist, wenn dann einige besonders gewiefte Meta-Pfarrer*innen und regulär-polemisierende Kirchenkritiker*innen mit höherer Lesenden-Reichweite so hart und ungnädig mit Pfarrer*innen ins Gericht gehen.

Mich erbost daran zuerst, dass eine Würdigung der Kreativität und Schaffenskraft fehlt, die da freigesetzt wird. Wie beweglich sind doch Pfarrer*innen aller Altersstufen geworden! Natürlich ist das erst mal schlecht, natürlich ist das zu viel, natürlich kommt das aus Hilflosigkeit. Aber es ist zu einfach, es alleinig pastoraler Eitelkeit zu unterstellen.

Mich erbost zweitens, die überhebliche Annahme, dass Pfarrer*innen, die sich jetzt selbst filmen, damit zufrieden wären und nicht selbst in einer Zwickmühle sitzen, nicht selbst abwägen und reflektieren, wie bescheuert und anstrengend ihr Aktionismus ist. Nicht selbst ringen mit den Möglichkeiten, unbedingt auch andere Gesichter zu zeigen, als durch Kontaktverbote nur sich selbst präsentieren zu können. Als ob Kirchenmenschen nicht klar wäre, dass sie vor allem ihre eigene Bubble bespielen.

Mich erbost drittens, dass die Antwort auf die wirklich berechtigte Kritik einer neuen digitalen Pfarrpersonenzentrierung ist (ist das nicht auch eine Konsequenz der Influencer-Personen-Fokussierung, was macht das eigentlich mit dem Pfarr-Amt): Sagt den Leuten, sie sollen die Gottesdienste auf der höheren Ebene, von Bischöfen und Kirchenoberen schauen. Die sind besser. Medial und technisch auf jeden Fall. Aber ist diese Aufforderung protestantisch oder reformatorisch?

Deswegen wäre es gut, aus protestantischer Sicht einmal die ekklesiologischen und liturgischen Konsequenzen des Genres „Andachtsvideo“ mit ein bisschen Gnade für die content-wütigen Pfarrer*innen durchzupausen.

Mediokre Vielfalt ist besser als Online-Spirito-Zentralismus

Mitten in einem globalen Umdenken, bei dem starke Anführer*innen gesucht werden, die eigenen Grenzen nochmal enger gezogen, die Nation wieder groß und erfolgreich oder nicht erfolgreich bewertet wird – mitten in neuer Identitätsverhärtung finde ich, ist es ein Gewinn, ist es sogar ein Markenzeichen von protestantischer Kirche, wenn sie total vielfältig und bunt daher kommt. Klar, auf keinen Fall ist es gut, wenn immer nur Talarisierte vor Altären hantieren (komisch übrigens, dass das jetzt nochmal emotionaler kritisiert wird, vorher standen die doch da genauso jeden Sonntag – nur ohne Kamera). Aber damit ist doch fast niemand zufrieden. Im Gegenteil – die Andachtsformate werden doch genau und gerade jetzt erst viel bunter und besser und die Leute reflektieren und arbeiten doch daran, dass ihr Gesicht nicht heilsnotwendig ist.

Für urbane Kritiker*innen ist es leicht zu sagen, dass es öde ist, die Steindorfkirche St. Renate Hinterstolfingen kennen zu lernen. Aber in der Idee von evangelischer Kirche, die wir zumindest im Moment noch haben, ist das eben noch ein Prinzip, dass sich gegen Zentralisierung sperrt. Guckt mal, das gibt es alles auch noch! Und das eben auch in Andachtsfilmchen. Und ich finde, das ist gut so. Niemand schaut sich das doch alles im Detail an. Aber es wird auf den Titelbildschirmen wahrnehmbar, was und wen es überhaupt alles gibt, in einer Zusammenschau gelebter Frömmigkeit, die es medial vorher nicht so gab. Allein das ist schon ein Akt von Gemeinschaft-Sein, auch wenn sich das, wie gesagt, niemand in voller Länge anguckt.

Endlich befreite Zuschauende

Denn: Das muss ja auch niemand mehr. Die Online-Zuschauenden sind endgültig emanzipiert, wie Rancière sagen könnte. Sie haben buchstäblich die Fernbedienung für die gottesdienstlichen Ereignisse (denn ich finde auch das Abspielen einer Aufzeichnung ist mit dem Akt des Schauens ein eigener liturgisch-homiletischer Akt – oder?) und sie können sich frei zusammenstellen, was sie wollen und was eben nicht. Sie sind die Souveräne, an deren Klicks die haareraufenden Pfarrer*innen ihren (Miss-)Erfolg messen. Aber sie waren das vorher doch auch schon. Nur mit anderer Messung und anderen Interaktionsregeln – mit anderer Interaktion.

Online-Gottesdienst-Aufzeichnungen oder Live-Streams verstärken wie ein Brennglas nicht nur die eine Seite schon lange bestehender liturgischer Schieflagen: Zu sehen sind ordinierte Personen, die stellvertretend was machen – und das ist zu wenig. Sondern eben auch die andere Seite: Das muss sich niemand geben, der das nicht will. Sonntagspflicht ist in der Quarantäne abgeschafft. Wo die Kirchengebäude nicht nur Gemeinschaft, sondern auch ein bisschen Sozialdruck auch durch das Pfarrpersonal bietet, kann ich mir das Evangelium in der Badewanne reinziehen oder – was ich am besten finde – beim Frühstück mit der Familie ab und zu auf die Sprechenden und die Musik hören. Ein Kanal von vielen.

Und immer dann, wenn Vielfalt zu sehen ist, wenn im Zoom-Gottesdienst viele da sind, wenn was interaktiv ist, wenn liturgisch in sorgsam komponierten Bildern gedacht und gehandelt wird wird und in Bewegungen und nicht mehr nur in Texten dann wird das neue Format nicht nur Fernsehen sein, sondern wirklich ein neues Genre des bewegten Andachtsbildes. Dann ist es gut. Dann hat es eine eigene Spiritualität. In Bildern.

Das echte Potential kommt noch

Ich glaube nicht, dass das Potential einer digital mediierten Schau-Frömmigkeit durch die Online-Impulse und YouTube-Andachten dieser Zeit auch nur angekratzt ist. Es waren schon immer Bilder, und zwar immer schon viel zu viele Bilder und nicht unbedingt die qualitativ hochwertigsten, die den Protestantismus angetrieben haben.

Ich glaube nicht, dass die Chancen einer neuen Art von Hausfrömmigkeit schon sichtbar geworden sind, selbst durch die kleine Veränderung, dass jetzt Leute auf Bildschirmen auftauchen, die ganz unbedeutend sind, die gerade keine gute showmanship haben, unbeholfen und ein bisschen verzweifelt. Und hoffentlich bald auch – das ist die protestantische Konsequenz – viel viel mehr die Gesichter von Nichtordinierten. Und genauso kann sich in Single- und in Familienleben Evangelium anders kommunizieren, einfach schon, weil Andacht und Gottesdienste aufwandsloser und zwangloser gesehen werden können – und kommentiert und angehalten und weggeklickt. Noch mehr, wenn sich das Genre wirklich in Richtung Bild-Spiritualität oder Interaktion weiterentwickelt. Beide Richtungen schließen sich nicht aus. Beide Richtungen prägten auch die protestantische Druckseite für den Hausgebrauch.

Jesus findet’s okay

Eigentlich hatte Jesus keine Lust auf den Schau-Aspekt. Eigentlich wollte er wohl, dass wir alleine klar kommen mit unserem Inneren und den anderen, ohne dass jemand uns was zeigen, erklären und beweisen muss. Das wird jetzt auch jeden Sinnfluencer und jede*n Online-Pastor*in angehen, wenn das Auferstehungsnarrativ vom zweifelnden Thomas unsere Schau- und Show-Frömmigkeit in Frage stellt. Aber – und das ist eben mein Punkt – wir sind eben nur Menschen und brauchen gute Bilder, bewegt und unbewegt, um unseren Glauben festzuhalten.

Datenbanken – der Fels, auf den wir unsere Kirche bauen

Noch vor der Krise: Vor ein paar Wochen. Noch draußen, da hab‘ ich mit einem guten Freund über die Zukunft des Parochialsystems gesprochen, während wir mit umgeschnalltem Baby durch das menschenverlassene Moabit spazierte. Ich habe von Dritten Orten erzählt, die in der EKBO jetzt sowas wie Fresh Expressions oder Erprobungsräume werden.

Aus seiner Sicht werden die Strukturreformen der Zukunft nicht nach Soziologischen Erhebungen, sondern nach knallharter Effizienzauswertung durch Künstliche Intelligenz. Wo bleibt eine Pfarrperson, wo nicht? Wo wird das Zielpublikum erreicht, wo nicht? Etc. Dann werden die Daten überlebensrelevant. Bisher schlummern sie in Churchdesk und KirA 2.0.

Telefonketten und Datenerhebung

Am Anfang der Krise: Sitze ich mit meiner kleinen Tochter und meiner Frau zuhause und suche eine Ecke mit vorzeigbarem Videohintergrund. Und ich sitze in der Küche neben leeren Breigläschen und bunten Löffeln mit einer Liste von Leuten, die ich anrufen soll. Die Liste ist blass mit Bleistift handgeschrieben. Dann ist sie eingescannt als jpeg und in eine Mail reinkopiert worden. Ich tippe aus dieser Liste Telefonnummern und Notizen in eine Excel-Datei. Und telefoniere sie ab. Alte Menschen und Junge, in Pflegeheimen und vor der Videokonsole. Kurz angebunden sind die meisten, als würde ich was verkaufen. Aber ich komme mit viel mehr Menschen in Kontakt als bisher „kohlenstofflich“. Aber eben nur in ganz kurzen Kontakt.

Nach einer Weile entwickle ich eine Message: Die Gemeinde ist übrigens auch noch da – oder so… Ich predige in unter 60 Sekunden auf Instagram, sonst ist das mit dem Upload so Mühsam – während Facebook meine Daten harvested. Und dabei erhebe ich selbst die ganze Zeit für die Kirche überlebensrelevante Daten. Wer wohnt bei wem? Wessen Nachbarn sind nett? Wer liegt im Bett und denkt nur nach ans Sterben?

Chance der datenbasierten Entscheidungen

Brad Parscale hat mit der Auswertung solcher Daten und gezielter Investition von Millionen von US-Dollar auf Facebook die 2016er Wahl für Trump gewonnen. Er hatte vorher kaum Ahnung von Datenverwertung, aber er hat – für die dunkle oder zumindest moralneutrale Seite der Macht – extrem schnell gelernt und bewirkt. Das sollten wir auch. Denn die Lage ist desolat.

In einigen Kirchenkreisen von Berlin werden bspw. nur noch 20% der evangelisch geborenen (!) Kinder überhaupt getauft. Obwohl wir genau wissen, wer das ist. Und intensiv daran arbeiten, wenigstens 10% der Kircheneintritte durch Konfirmationen zu halten und noch auszubauen. Vielleicht gibt es dafür bald Zentralstellen, wo Daten strategisch für Kasualien und Mitgliederpflege verwertet werden. Denn: Bei weitem nicht jede Leitungsperson der Gemeinden hat Zugang zu den Datenbanken der Gemeinde. Auch Kirchenvisitationen entdecken empirische Grundlagen für Wachstum, Entwicklung und Prognose erst seit Kurzem enthusiastischer.

Nach der Krise: Ich glaube, es ist jetzt entscheidend, dass sich jeder und jede in den eigenen Kontext sinnvoll und verantwortlich (Datenschutz!) Daten sammelt und datenbasierte Entscheidungen trifft. Was auch immer für digitale Systeme wir haben in den Gemeinden, das sind eben nicht nur doppelte Kirchbücher – das sind die Daten, die die Zukunft gestalten werden. Mit den Namen, Emailadressen, Sozialen Kanal-Nutzungsschemata, Telefonnummern, Anschriften, Vorlieben, protokollierten Interaktionen, mit gesteuerten Kontaktaufnahmen und Evangeliums-Kommunikationen erreichen wir die Gemeindeleute, die nicht zu den 20 Kerngesichtern gehören.

Das lerne ich gerade am Telefon. Und frage mich, was nicht alles über das Telefon hinweg möglich wäre, wenn ich mehr Daten hätte. Und was mit all den neuen Krisendaten nach der Krise passieren könnte.

Jim Henson, König der Film-Weihnachtslitanei

Theopop im Advent: Jeden Sonntag gibt es einen neuen Artikel mit einer etwas anderen Sichtweise auf die Vorweihnachtszeit – zum Nach- und Mitdenken.

Stirb Langsam, Kevin Allein zu Haus, Tatsächlich Liebe, Lethal Weapon, Brügge sehen … und sterben – ich weiß nicht warum das so ist, aber ich bin besonders bei meiner Reihenfolge von Weihnachtsfilmen, die ich jedes Jahr sehen muss, um mich in Stimmung zu junken, sehr, na gut, zwangsgestört.

Muppets Family Christmas auf Youtube, Scrooged auf Amazon oder DVD, das Garfield Christmas Special, das Alf Christmas Special und dann aber der Höhepunkt: Die Muppets Weihnachtsgeschichte.

Besonders das erste kann ich aber ans Herz legen, es hat mir einen ersten Zugang zu anglikanischen und methodistischen Weihnachtsliedern gelegt. Ich singe die in der Advents- und Weihnachtszeit immer genau in der Reihenfolge wie das die Muppets gemeinsam mit der Sesam-Straßen-Crew machen. Ja, Du und Sie lesen richtig: Die Muppets UND die Sesamstraßen-Charaktere feiern zusammen Weihnachten. Mit den Fraggles. Auch wenn die wohl wirklich keiner mehr kennt. Das ist ein ambitioniertes Crossover vor dem die Avengers zittern müssen und an das sich hoffentlich die Menschen länger erinnern werden.

Jim Hensons Puppen-Inklusivismus

Jim Henson kommt selbst darin vor. Und er wäscht ab. Jesuanisch wie er ist. Drei Jahre vor seinem tragischen Tod. Die Lieder, die die Muppets und Sesamstraßen-Puppen singen, sind christliche. Und die Werte sind religiöse. Aber zivilreligiös, oder besser inklusiv.

Jim Henson wuchs als Christlicher Wissenschaftler (Christian Scientist) auf und blieb auch in Interviews bei dieser Zuordnung. Also kommt er aus einer christlichen Sekte (Fabian kennt sich da besser aus), die auf Mary Baker Eddie (1821-1910) zurückgeht und teilweise Techniken religiösen Heilens und enge nicht-trinitarische Bibelinterpretationen weitergab.

Mit der Sesamstraße beginnt Henson eine inklusive, transreligiöse Pädagogik zu entwickeln. Mit den Muppets springt er stärker ins Chaos, mit mehr Gewalt und Aggression. Aber immer noch mit Puppen. Henson sprach selten über seine Religion und ging zeitweise auch mal zu den Methodisten und oder Presbyterianern. Aber er entwickelte ein Erbe von Werten und eine übergreifende Pädagogik, die Menschenkinder und eben auch Weihnachten revolutionierten.

Die Muppets-Weihnachtsgeschichte – das Nonplusultra mit Power-Zitaten

Es geht nicht besser als die Muppets-Weihnachtsgeschichte, unter Brian Henson, Jims Sohn, entstanden. Nicht mal das Original von Dickens ist besser. Der Soundtrack ist so ziemlich das inklusivst-weihnachtlich-fröhlichste Hymnen-Zitate-Flickwerk, das ich kenne. Das war Hensons Modell: eine leichte Anspielung von Christlichem, ein paar Töne, eine Strophe, ein Bibelzitat. Und es wirkt umso stärker,

Was ich also wirklich zukunftsweisend finde und modellartig, ist, dass Henson in seinem Meisterwerk „Die Muppets Weihnachtsgeschichte“ den einen Satz von Tiny Tim sprechen lässt. Genauso, wie er die christlichen Lieder beim Muppets Family Christmas einbaut. Klein aber heftig, spricht Tiny Tim. Der geht mir zur Kirche, weil es gut ist, wenn die anderen ihn sehen. Er sagt es ungefähr so: Es tut den Menschen gut, sich zu erinnern, wer es war, der Blinde sehen und Lahme gehen ließ.

Ohne direkte Referenz, als eine von vielen guten Botschaften kommt hier das Evangelium und der Sinn von Jesus. Und es trifft mich jedes Jahr wieder. Und darin sehe ich ein Modell. Die Christliche Botschaft als eine von vielen guten,  sorgsam, einfach, sanft und heftig, ernst und von einem Plüsch-Frosch gesprochen und trotzdem – oder umso mehr – wirksam.

Catchy Kitsch – Salvation by Glitter

Theopop im Advent: Jeden Sonntag gibt es einen neuen Artikel mit einer etwas anderen Sichtweise auf die Vorweihnachtszeit – zum Nach- und Mitdenken.

Spätestens jetzt kommen die materialgewordenen Sünden zum Vorschein. Die Saure-Gurken-Ornamente, das Lametta, die Heere von teilinvaliden Engels-Chören. You name it. Plastik oder Alu finde ich dabei völlig egal. Natürlich werden da teure Materialien nachgemacht. Aber das Zeug glitzert und macht Spaß, gerade weil es eben kein echtes Gold oder Silber ist, sondern weil Glitzern mittlerweile Bürgerrecht erster Ordnung ist. Das macht das Gehirn glücklich und lässt die Synapsen knistern (vgl. meinen Beitrag zu Gold hier auf Theopop). Schon immer mal gerne wurde Glitzern eingesetzt für die Darstellung von Gott.

Aber ich finde, dass gerade auch Kitsch eine Erfahrung mit Gott ermöglicht. Weil er religiös ist oder sein kann. Nicht weil er irgendwie was richtig oder falsch künstlerisch darstellt. Sondern, weil er von der Freiheit der Menschen zeugt, sich selbst – jenseits von vorgegebenem oder sanktioniertem Geschmack – Umgebungen für Gotteserfahrungen zu gestalten.

O Holy Kitsch

Ich singe also das Hohelied des Kitsch an Weihnachten. Weil es ästhetische (eben gerade für Ästhetiker*innen mehr oder minder ästhetische) Wege zur Erlösung bzw. erlösungsanalogen jenseits der offiziellen bourgeoisen oder akademischen oder theologischen Diskurse aufdeckt. Was wäre kitschiger als die pietistische oder puritanische Konversionsliteratur – und die Konversionsobjekte und -Praktiken (vgl. Katharina Krause, Bekehrungsfrömmigkeit, Mohr Siebeck, 2018). Und dennoch ist das ein ganzes Reich an von der offiziellen Theologie vernachlässigten Wissens von Gott.

Das steckt eben in jedem ausgepacktem Glas-Engelchen, dem mexikanischen Verlegenheits-Wickelstern und der fragwürdigen Krippe, in jedem staubigen Geruch von Altem und süßlich-plastizinen Gerucht von Neugekauftem Schmuck. Denn der markiert frei, was wichtig ist, zu Hause, im Geheimen und Halb-Geheimen, in der Familienreligion. Der markiert, was weitergegeben wird, was bleibt. Und was funktioniert hat, was Erfahrungen von Gott ermöglicht hat, auch wenn das keiner gedacht hätte.

Billig aber bewährt – Gott erfahren

Kitsch ist billig und reproduziert. Aber Kitsch funktioniert. Es beruhigt. Es ist sicher. Klar, ist es auch verlogen, vereinfachend, verdummend. Aber es lähmt auch angenehm und fokussiert und ist verbindlich, es ist auch geheimnisvoll und verboten, und man zeigt es nicht ungefragt und es ist ein bisschen ungehörig und subversiv – und wenn das keine Gotteserfahrungen sind… Aber es ist die Trash-Art und die Junk-Collage nicht der Dadaisten oder von Braques, sondern von jedermann ohne Kontrolle und Bewertung.

Der Gipfel des Kitsch steht offiziell fest

Und deswegen hier mein Geständnis: Ich finde Weihnachten kann man sehr gut in dieser Weihnachtspyramide finden, die mir ein amerikanischer Episkopaler gezeigt hat. Bitte nicht kaufen, nur akzeptieren. Die ist so falsch und Disney, dass sie schon wieder überspringt und mich ganz glücklich macht.

Mickey steigt auf und sammelt Geschenke ein, bis er dann ganz oben mit Pluto über Cinderellas Schloss fliegt. Er wird Santa und fliegt über die Heilige Stadt und eine kitschigere und bessere Installation von Pop-Weihnachten muss mir erstmal jemand zeigen.

Der Ur-Klaus – Tausend Santas durch die Augen von Carl Jung

Theopop im Advent: Jeden Sonntag gibt es einen neuen Artikel mit einer etwas anderen Sichtweise auf die Vorweihnachtszeit – zum Nach- und Mitdenken.

Netflix hat die Weihnachtszeit mit Klaus eingeleitet. Eine Parallel-Weihnachtsmann-Origin-Story. Und ich finde die ist sehr gelungen. Die hat natürlich nichts mit der offiziellen Kirchen-Weihnachtsmann-Booh-Origin-Story zu tun: Erfindung von Coca Cola, Bischof von Myra, Kommerzialisierung etc.

Santa ist schon lange sein eigenes Ding (wie David S. Pumkins vor ein paar Jahren sein eigenes Halloween-Ding wurde). Das Gegenwarts-Symbol hat sich schon lange abgetrennt von dem, auf was es ursprünglich mal bezogen war. Kluge Franzosen wie Derrida und Barthes finden das gar nicht so schlimm. Also, dass man gar nicht mehr an den Ursprung von einem Symbol zurückfinden kann.

Vor allem aber, dass es gar nicht anders geht, dass so ein Symbol relevant bleibt, ohne dass es sich immer weiter verschiebt und verändert und neues Material aufnimmt. Klaus (man beachte die archaisierende Verwendung des Deutschen im Amerikanischen Film) ist die zigtausendste Wiederholung der Wiederholung, Iteration und Kopie von Santa, von Santa Claus, von Sankt Nikolaus, … .

Jungianische Santa-Substanz

Dabei ist einiges auf der Strecke geblieben und einiges dazu gekommen. Aber was ich wirklich mal spannend fände, wäre, zu gucken was eigentlich an Santa-Substanz geblieben ist. Carl Jung ging davon aus, dass es so etwas sie Archetypen gibt, universelle religiöse und quasireligiöse Erfahrungskristallisationen. Dabei ist Klaus der weise alte Mann. Wie Dumbledore, Gandalf oder Rowan Williams – massiver Bart, seltsamer Hut, klüger als andere, erklärt die Welt.

Santa steht für diffuses Gut-sein, harte Arbeit, fordianische Produktionsmethoden, meritokratisches Gesellschaftsbild und Geben-Können.  Und Santa ist auch ein alter, weißer, einflussreicher Mann. Und Mrs. Santa bleibt zu Hause. Egal, dass Nicolaus gar keine Frau hatte so als Bischof – oder doch in den dunklen Wirren der Kirchengeschichte verloren? Mmh.

Santa ist Glauben

Santa steht aber auch für den Diskurs des – ebenso diffus-zivilreligiösen – Glaubens an Unsichtbares und Unerwachsenes. So sehr, dass Santa eben auch irgendwie für Gott steht. Auf einer vielverpackten Ebene der zigtausenden Wiederholungen zumindest. Deswegen parallelisieren Atheist*innen auch gerne die Frage nach Gott mit der Frage nach dem Weihnachtsmann – und Christ*innen kommen ins Rudern, wenn die eigenen Kinder nach den Feinheiten der Unterscheidung der beiden Omnipotenz-Figuren kommen.

Santx- Gender-neutral Santa

15 Prozent befragter Brit*innen und 20 Prozent befragter Amerikaner*innen sehen Santa entsprechend einer gottesanalogen Aufladung als eine genderneutrale Kraft . Das kann man jetzt gerne diskutieren. Auch die Modernisierung von Santa. Ich finde es berechtigt. Eben weil ich finde, dass Santa und Klaus und der Weihnachtsmann schon lange frei sind, neu aufgeladen und anders verwendet zu werden. Warum nicht mal als Kraft oder Frau oder Abstraktum?

Vielleicht können wir ja einfach wieder mehr Heilige, Frauen, Männer und Undefinierbare, ins Weihnachtsgeschäft zurückbringen. Wieso nicht mal wieder St. Stephanus rausholen und abstauben. Hat immerhin mein liebstes Weihnachtslied dazu – Good King Wenceslas.

Ad-Events und Trump-Liturgie – Der Marathon in Richtung Advent beginnt

Theopop im Advent: Jeden Sonntag gibt es einen neuen Artikel mit einer etwas anderen Sichtweise auf die Vorweihnachtszeit – zum Nach- und Mitdenken.

Vor-Advent ist eigentlich schon eine ganze Serie an Events. Ad-Advent, oder Ad-Events könnte man sagen. Oder eben viele Events. Damit sich das ganze so lange wie möglich zieht und Content generiert. Gar nicht mal verkauft. Einfach die Gemütlichkeitsmaschine anwirft. Die hilft auch immer gut gegen Protestbewegungen. Mit ganz vielen neuen populären Stufen und Veranstaltungen und Zeitmarkierungen, die gar nicht so einfach zu vermeiden sind. Die gesamtgesellschaftlichen und zivilreligiöse Liturgien verändern sich so, dass man selbst als hochkonservative*r Liturgiker*in gezwungen wäre, sich zumindest mit neuen auseinander zu setzen.

Medienmäßig sind Post-Gen-X-Menschen mittlerweile an die Reihenfolge Halloween-Thanksgiving-Christmas-Special gewöhnt. Auch wenn die US-amerikanische Tradition nicht wirklich einen Fuß in die Tür kriegt, was Traditionen hierzulande angeht – irgendwie feiere ich das passiv doch noch mit. Und es ist nochmal ein ganz anderes medial schon sehr vertrautes Ereignis als unser kollektiveres und öffentlicheres Erntedank. Sowas wie Christmas Stage 1 vielleicht.

Trumps Liturgie und Kampf um die (Vor-Weihnachtszeit)

In der Woche vor dem ersten Advent hat Donald Trump in Florida (wo sonst) bekannt gegeben, dass er in einen neuen „Krieg um Thanksgiving“ eintreten will:

As we gather for Thanksgiving, you know, some people want to change the name ‚Thanksgiving.‘ They don’t want to use the term ‚Thanksgiving […] „But everybody in this room, I know, loves the name ‚Thanksgiving‘ and we’re not changing it.“

Donald Trump

Das ist eine neue Version des sogenannten Kriegs gegen Weihnachten. Und Trump behauptet, er hätte den Krieg um Weihnachten schon gewonnen. Denn jetzt dürfen endlich alle wieder sagen „Frohe Weihnachten“ statt „Frohe Feiertage“.

Dabei hat Trump selber eine sehr kohärente Liturgie entwickelt. Und sein gesamtes politisches Programm basiert eigentlich auf, hat seine eigentliche Substanz, in diesen überwältigenden, Erfolg-zeigenden und einfach leider sehr gut gemachten Rally-Shows. Die entlehnen nicht nur gezielt Techniken aus der evangelikalen Worship-Kultur – mit Call-and-Response (Fake News, Crooked Hillary, Obamacare, protesters who need haircuts , walls, winning, USA! USA! USA!). und Emotionalisierung und Prosperity-Gospel (we will all be so rich!).

Und obwohl Trump unter vorgehaltener Waffe nicht das Vaterunser zusammenkriegen könnte, verteidigt er christliche Feiertage. Die sind aber nur sowas wie einige von vielen Hülsen oder leeren Markierungen für ihn.

Ich finde gerade in diesen Event-Stufen und gerade mit Blick auf den US-Präsidenten, gerade mit dem Blick auf die ganzen Ereignisse direkt vor der offiziell von der Kirche nach Ewigkeitssonntag freigegebenen Liturgie und Abfolge, lassen tief blicken. Ich glaube, die Substanz dessen, was wirklich passiert und bewegt und aufregt hat sich schon seit über 50 Jahren konsequent vor die Feiertage geschoben.

Ad-Vent – Das Event vor dem Vor-Event mit den vielen Ads

Man nehme nur Amazons Cyber-Monday-Wochenende, das ist eine so derbe semiotische Verschiebung, die eigentlich kaum noch Sinn macht. Aber ich bin sie gewöhnt. Das ist das Wochende vor dem neuen auf Online-Shopping gepolten Montag nach dem auf Rabatte gepolten Freitag vor dem Beginn der Adventszeit vor der eigentlichen Weihnachtszeit (die ist dann aber schlagartig am 26. vorbei, Mariä Lichtmess interessiert da kaum wen).

Denn die Substanz, die tatsächlichen Interaktionen und Transaktionen beziehen sich so auf die traditionellen kirchlichen Advents- und Weihnachtsliturgien, dass diese eigentlich ins unendliche verschoben und verdehnt werden.

Und das Problem ist wieder, dass von Kirchenseite nichts weiter zu den neuen Vor-Vor-Eventisierungen kommt als moralinsaures Gemecker. Klar bin ich gegen Konsum, aber irgendwie ist es langweilig jedes Jahr durch die ernsten Verzichtsaufforderungen zu Black Friday zu scrollen. Und Witze über den Verlust der Menschenwürde bei Amerikaner*innen abzunicken, die einen Walmart in ein Kriegsgebiet verwandeln.

Wieso nicht mal was Konstruktives dagegensetzen, was Positives, wo man was machen kann, auch zusammen. Vor-Saison-Events wie Church-for-Friday-Gemüseschmoren oder Refugee-Appreciation-Week vielleicht? Zugegeben, es muss wohl mehr sein, als die Zerdehnung noch weiter zu fördern. Weihnachten und Advent gehen jedenfalls schon lange vorher los und dabei nur den Mahnefinger zu heben finde ich auch dieses Jahr zu hochkulturell-spaßbremserisch.

Zurück ins Paradies – Neue Mediatisierungen von Natur

In den letzten sechs Monaten hat nichts so sehr in den Medien und in den Köpfen gewildert wie das zentrale Bedrohungsszenario: Das Ende der Natur. Am Union Theological Seminary entwerfen sie Gottesdienste, in denen sie einzelne Bienen beerdigen. Greta Thunberg nimmt Teil an indigenen Ritualen bei Protesten gegen Klimaausbeutung. Marina Abramovic ertrinkt in ihrer App an Schmelzgletscherwasser, wenn wir nicht Geld schicken. In Berlin gründet sich Church for Future. Muss ich alles keinem erzählen.

Theologisch höre ich bisher erstaunlich wenig darüber und wenig sinnvolle theologische Reflexion außer von einigen dämlichen Vertrauenswürdigen, die auch noch in die Fuck-Greta-Debatte reinfaseln. Muss ich auch keinem erzählen. Außer vielleicht, dass das Argument der Naturbedrohung die Ansätze eines Erlösungsglaubens an Plausibilität und Mobilisierungsvermögen wirklich sehr locker in die Tasche gesteckt hat. Und wir, die wir von Schöpfungsbewahrung die Lippen fusselig bekannt haben, stehen daneben und verhuschen vielleicht gerade noch den Systematiker, der was von einer falschen Ideologisierung der Natur murmelt, die vom christuszentralen Offenbarungsgeschehen ablenkt.

Natur im Gottesdienstraum und im Kirchenjahr

Dabei finde ich besonders spannend wie wir eigentlich Natur in Gottesdiensten inszenieren und medial umsetzen. Ich weiß nicht, ob es vielen so ging, aber in dieser Zeit zwischen Erntedank und Weihnachten wird mir immer nochmal richtig bewusst, wie sehr der Kirchenraum eigentlich als Natur-Prozess, als Nachbildung des Paradiesgartens angedacht ist – mit Ursprungsflüssen und Lebensbäumen und lauter Inszenierungen edenartiger Natur.

Und ich weiß nicht ob es vielen so ging, aber an Erntedank habe ich das dieses Jahr zum ersten Mal ziemlich komisch gefunden, den Raum so mit lauter Natur zu dekorieren, wie wir das dann auch auf den Gräbern machen und dann mit den meterhohen, teuren Weihnachtsbäumen für die ganze Atmo. Und ob das so passt, Erntedank feiern und das so dekorieren, wie wir das machen, vor dem Hintergrund der ganzen Klimarebellionen. Wir inszenieren Natur. Und die Kirche ist dabei wie ein Minigolf-Kurs mit beschnittenem Wildwuchs nicht nur, wenn wir das Fest mit Maien schmücken und auf Kirchenpachtland Gastarbeiter*innen Spargelernte schuften.

Panometer – zivilreligiöser Gottesdienst mit saftigem Eintrittspreisen

Meine Irritation kommt von einem Besuch des sogenannten Panometers in Leipzig. Das hat Yadegar Asisi mit einer dem Wittenberger Reformationsjubiläumspanorama nicht unähnlichen zivilreligiösen Aufladung gebastelt. Ich kann das nur empfehlen, auch als Lektion in Kommerzialisierung von niedrigschwelliger Alltagsreligiösität am Beispiel von: Einem Leipziger Kleingarten. Carolas Garten.

Vor einem riesigen Panorama also am Rande von Leipzig sind Szenen aus einem Kleingarten stark vergrößert ineinander geshoppt. Dazu gibt es Wellness-Musik und man kann auf einen kleinen Turm steigen und unterschiedliche Ebenen begehen. Und was mich beeindruckt ist, dass die Menschen sich in meiner Wahrnehmung wie in einem Gottesdienst verhalten. Sie sind außerordentlich andächtig. Es wird geflüstert. Sie staunen. Es gibt einen langsamen Tag und Nachtwechsel. Dazu gibt es Gedichte von Heinrich Heine und Strophe 9 aus „Geh aus mein Herz und suche Freud“. Teilweise melodramatisch vorgelesen. Seichte schöpfungstheologische Aussagen in nichtdenominationaler Sprache verabreicht.

Und die wirklich beruhigten und affektierten und angerührten Besuchenden filmen das Ganze Erlebnis auf ihrem Handy. Die ganze Zeit. Der ganze Raum ist in blaues Handylicht getaucht. Das ist glaube ich sogar einberechnet in die Farbspektren des Panometers, das übrigens Themen wie Paradies, Lebensbaum, Umweltzerstörung, Atomkrieg ganz elegant und unterschwellig… einfach nur zeigt und trotzdem beruhigend bleibt.

Second-Hand-Religiosität könnte man das nennen. Aber das wäre zu abschätzig. Denn den Menschen im Panometer gibt das wirklich was. Es tut ihnen gut. Simulacrum von Natur statt Wirklichkeit könnte man wettern, Baudelaire und die Matrix und die Wachowski-Geschwister geifern. Aber die high-end-Technologie-Inszenierung wirkt und funktioniert. Die blaue Pille schmeckt.

Na klar ist das vielleicht mediatisierter Eskapismus. Aber das sind unsere Gottesdiensträume auch. Na klar sind das Special Effects, aber das sind unsere Gottesdienste auch. Was heißt das also, was kann man von Asisi lernen, nicht dem Heiligen, sondern dem Neu-Heiligen mit einem S weniger?

Besser Second-Hand-Religiosität als gar kein Seelenkitzeln

Simulation und Simulacrum sind längst unsere Gewohnheit und bloß, weil was nicht echt-echt ist, heißt das noch nicht, das es nicht wirkt. Scheiß auf die Aura des Echten. Auch Kopien können kribbeln. Wenn wir immer vom Gewächshaus Kirche sprechen und von Bewahrung der Schöpfung dann müssten wir wenigstens wahrnehmen, dass schon lange nichts Defizientes oder Falsches oder Moralisches mehr in der Inszenierung von Natur in Kopien liegt. Die Wirkung auf die Seele auch von dem, was wir an „Natur“ in den Gottesdienstraum stellen, als Abbilder, die Kraft der Dinge und ihre Seelen-Effekte als Messindikation könnte aber für die pastorale und Kirchenpraxis gerne noch mehr Aufmerksamkeit bekommen.

Muss das wirklich ein abgeschnittener Riesenbaum sein – und die Kürbisse, die bis März in der Sakristei verflüssigen? Wenn ja, dann aber bitte eindrucksvoll, damit die Natur nicht umsonst für sich selbst leiden und sich selbst darstellen muss. Sonst hole ich mir mein Naturerlebnis in der Panometer-Show und nicht im Dom. Und das heißt auch: Es ist okay, wenn Leute Gottesdienste auf dem Handy filmen und sich das später angucken. Es ist keine falsche oder schlimmere Medienkonsumption, gegenüber dem ja auch schon inszenierten und kopierten Gottesdienstgeschehen, aber es gibt Menschen die Wahl und mehr Macht über die Mediatisierungen von Glauben zu verfügen. Denn: Christentum und Glaubensausdruck können doch noch viel mehr als Natur, können mehr als Natur darstellen und medial verwenden, eigentlich konnten wir das sogar mal besser als alle anderen.

Es wird Zeit, unsere Quellen für Natur, Gott und Glauben wieder zu entdecken und in neuer Sprache, mit neuen Medien und Jahrtausenden von best practice im Ärmel in die Diskurse einzuspeisen. Sonst machen das andere. Besser.

Big Data, little church

Vor einigen Tagen ging ein Experiment schief. Ich finde mich in einem kleinen Raum mit 20 Konfirmand*innen, die hochagitiert auf einen gutmeinenden Informatik-Studenten aus dem Kreisjugendkonvent einreden. Das Referat war vorbei. An der Wand leuchtet das Sicherheitsmodell von Threema „seriously secure messaging“. Und völlig unerwartet fand ich mich in der Rolle eines verlorenen Unheilpropheten in einem Raum voller wütender junger Menschen, die ich sonst noch nie so erlebt hatte. Denn abgenommen haben die Konfirmand*innen uns das nicht.

Für mich klingt das irgendwie nach Verschwörungstheorie!

Hände- und hirnringend suchten mein Jugendmitarbeiter und ich nach Szenarien, um die Bedrohung durch Big Data für die Jugendlichen nachvollziehbar zu machen –  „Die ganzen Leihfahrräder in Berlin benutzen chinesische Firmen, damit sie Bewegungsprofile abgreifen und zu Geld machen können.“, „Payback-Karten rechnen nach Einkaufsprofilen besser aus, wann jemand schwanger ist, als eine Hebamme.“ „Metadaten machen es möglich, jeden von euch zu finden und sogar vorherzusagen, wo ihr als nächstes hingehen werdet.“ – Was dabei ankam war wenig mehr als: Bedrohung. Nicht durch Big Data, sondern durch uns.

Ein Angriff auf ihre Lebenswelt, in der WhatsApp und Instagram fest integriert sind, in der personalisierte Werbung erwünscht ist und nicht weh tut. „Wen interessieren denn meine Daten?“ und „Für mich klingt das irgendwie nach Verschwörungstheorien?“ und „Ich kann doch YouTube auf anonym stellen, dann kann keiner meinen Verlauf sehen“.

Bedrohungsszenarien als Angriff auf die Lebenswelt

Vielleicht hätte ich besser die Stasi-Christen-Verfolgungs-Keule ausgepackt. Aber das ist mir in dem Moment nicht eingefallen und das wäre auch nicht gerade aktuell. Ich war baff und ich fühlte mich schlecht. Gefühlt hatte ich plötzlich einen Aluhut auf und sprach von Chemtrails. Aber dieser Angriff war nötig – nur eben nicht sehr elegant. In der kirchlichen pädagogischen Arbeit haben wir gute Gründe, besonders sichere und besonders komplizierte Anwendungen für die Kommunikation zu verwenden: Daten-, Kinder- und Jugendschutz und eben die Monetarisierung von Informationen durch Big Data. In meinem Kopf und im Kopf von vielen Jungendmitarbeitenden macht das total Sinn. Aber es ist noch längst nicht so einfach diese Überzeugungen an junge Menschen, die wirklich digital natives sind zu vermitteln.

Datensicherheitstheologie?

Und was hat das überhaupt mit Religion und Gott zu tun? Wie kann ich Datensicherheit pädagogisch und theologisch sinnvoll vermitteln, ohne über Bedrohungsszenarien zu gehen?

Religiöse Gemeinschaften haben einen Auftrag, eine Diskussion um Datensicherheit zu starten – nur irgendwie besser… Immerhin passiert da mal was. Bei wütenden Jugendlichen hat man mit Ernst Langes Streitkulturtheologie im Hinterkopf religionspädagogisch auf Gold gestoßen. Es gilt, weiterzugraben, auch in unseren Büchern (…bevor wir unsere Datenbanken aufmachen).

Im Christentum geht es doch im Wesentlichen um Fairness, um gleiche Sichtbarkeit und Repräsentation für alle. Schöpfungstheologisch sind Menschen ganzheitliche Wesen aus Fleisch und Blut und Seele und sie lassen sich nicht letztwirksam über Metadaten vermessen und kontrollieren. Irgendwo ist ihre Identität auch ein Ausdruck ihres persönlichen Verhältnisses zu Gott – hoffentlich sogar so weit, dass man diesen Teil des Lebens irgendwann effektiv dem quantitativen Big-Data-Ansatz entgegensetzen kann – wenn der Credit-Score zu gering ist oder der schlechte Wohnort sich für ein Service-Angebot nicht mehr lohnt.

Auch das wäre ein Ansatzpunkt gewesen: Der inhärente Rassismus und die Misogynie von KI-Algorithmen – nur irgendwie elementarisierter. Oder die strategische Verschleierung von Datenverwertungen und die ungerechtfertigte Weiternutzung von Daten – dagegen muss Kirche was sagen. Aber dafür muss sie das erstmal sinnvoll sichtbar machen. Vielleicht ist es dafür gut, auch bei den Vorteilen von Big Data anzusetzen und ihre emanzipatorischen Kräfte auch für andere – mein Gott – sogar für Gemeindeaufbau einzusetzen. Wenn KirA 2.0 nicht streikt.

Daten-Emotionen

Daten, auch das wird klar, sind eben nicht nur eine intellektuelle Angelegenheit, nicht abstrakt, sie werden ganz schnell emotional, wenn wir damit gerne für unsere Kommunikation, unsere Verbindungen mit der Welt bezahlen und uns das jemand wegnehmen will – mit der Jugendwelt fernliegenden Horrorszenarien von Geheimdiensten und obskuren Ausbeuterfirmen.

Schließlich machen das alle – nur Kirche sieht wieder nur Probleme und Angst.

Daher gilt auch umgekehrt: Die hermeneutischen Fertigkeiten von Theolog*innen müssen auch auf die Sicht des Menschen als Datenkonnex erweitert werden. Wir sind doch schließlich Expert*innen im Interpretieren und sollten uns daher in das Interpretieren und Verwenden auch der Großen Datenwolken einklinken.

Der Weg kann jedenfalls gerne weg vom Bedrohungsszenario und weg von einer reinen Verschanzung und Reaktion zu einem pro-aktiveren dialogischen Engagement mit den neuen Datenwissenschaften – oder gehört das wirklich zu einem Feld, aus dem sich Kirche raushalten, wo sie mit Niebuhr gesprochen „Jesus gegen die Kultur und Technologie“ sein soll. Dann muss sie und muss ich darin aber sprachfähiger werden.