Jeden Sonntagabend versammeln sich bis zu 10 Millionen Deutsche vor dem heimischen TV-Gerät, das Bier oder den Wein auf dem Couchtisch, die Knabberbox daneben. Wenn dann die Tatort-Titelmelodie aus den Lautsprechern erklingt, ist es wieder so weit: Die Verbrecherjagd beginnt.

Tatort-Beginn
Der Beginn des Tatorts, dem Woche für Woche Millionen Menschen entgegenfiebern. (Bild: Eva freude/flickr.com)

1. Das Tatort-Ritual

Sonntagabend ist Tatort-Zeit. Für viele Millionen Deutsche, Woche für Woche. Und nicht selten umgibt die „heiligen eineinhalb Stunden“ ein festes Ritual, das man auch Gewohnheit nennen könnte. Es sieht zwar bei jedem anders aus, wird dann aber Woche für Woche – soweit möglich – eingehalten. Wird vor oder während dem Tatort gegessen? Gibt’s Bier, Wein oder Saft? Flimmert vor dem Krimi die Tagesschau über den Bildschirm, oder wird erst beim Wetter eingeschaltet? Und danach: Verabschiedet sich der Fernseher in den Standby-Modus oder wird noch die wöchentliche Dosis Polit-Talk konsumiert? Der „Tatort“ ist häufig eingebettet in einen rituellen Ablauf des Sonntagabends. Und er ist der Dreh- und Angelpunkt, nach dem sich der Abend ausrichtet. Und kommt einmal kein Tatort, ist die Enttäuschung groß: Was machen wir denn dann? Für viele gehört der Tatort zum Sonntagabend wie für andere der Gottesdienst zum Sonntagmorgen. Und das muss nicht im Widerspruch stehen. Zugegeben, sicher finden sich nicht bei allen diese festen Rituale. Aber auch der Tatort selbst birgt Dinge, die durchaus religiöse Züge aufweisen.

2. Gerechtigkeit wird hergestellt

Der Tatort ist die erfolgreichste Krimiserie im deutschen Fernsehen. Dabei weiß doch eigentlich jeder, dass am Ende die Guten gewinnen und der Bösewicht geschnappt wird. Und aufgrund empirischer Untersuchungen eigener Tatort-Abende gilt auch als sicher: Wen auch immer die Ermittler vor 21.30 Uhr festnehmen oder unter Tatverdacht haben, ist unschuldig. Der Täter wird erst nach halb zehn geschnappt, damit es schön spannend bleibt. Und kommt einmal ein Tatort mit einem offenen Ende, was für meinen Geschmack selten genug vorkommt, höre ich schon das Raunen und die Stimmen danach: Das geht doch nicht, das ist doch keine runde Sache!

Wir haben eine tiefe Sehnsucht danach, dass am Ende alles gerecht ist. Und das gilt nicht nur mit Blick auf unser Leben, in dem erfahrene Ungerechtigkeit und scheinbare Sinnlosigkeit für Fragen und Verzweiflung sorgen können. Auch wenn wir die Welt als Ganzes sehen, stellt sich unweigerlich die Frage nach der (Un-)Gerechtigkeit, die nach irdischen Maßstäben nicht beantwortet werden kann. Der Tatort, wie viele andere Kriminalfilme auch, kann als ein kleiner Ausschnitt dieser Welt verstanden werden, freilich fiktiv, aber dennoch realistisch anmutend. Da passiert etwas Schreckliches, sei es ein Mord oder eine Entführung. Doch es kann nicht sein, dass diese Ungerechtigkeit bestehen bleibt – das Verbrechen muss geklärt, Gerechtigkeit muss wiederhergestellt werden.

Nur aufgrund dieses Gefühls, unseres Bedürfnisses nach Gerechtigkeit, nehmen wir offene Enden, bei denen der Täter ungeschoren davonkommt oder nicht angemessen bestraft wird, nicht als „runde Sache“ wahr. Der Tatort befriedigt dieses Bedürfnis, dass „am Ende alles gut“ und das Böse besiegt wird. Er baut eine fiktive Welt auf, in der das Gute, die Gerechtigkeit, immer siegt.

3. Das Böse wird besiegt

Der Tatort
Das Gute braucht den Schrecken – im Tatort zumindest. (Bild: Thorben Wengert/pixelio.de)

Das spricht einen weiteren Wunsch an, der in uns verwurzelt ist: Der Wunsch nach der Gewissheit, dass das Gute immer größer ist als das Böse. Die Machtbereiche sind klar verteilt. Da kann zwar ein Serienkiller wüten, der dutzende Menschen ermordet. Doch er tut das nur temporär mit Erfolg. Irgendwann kommt der Punkt, an dem die Ermittler die Überhand gewinnen. Und am Ende werden sie siegen. Kein Bösewicht kann die Guten besiegen, egal wie perfide und grausam er ist. Auch das ist aber Teil einer fiktiven Welt, in die uns der Tatort entführt.

4. (Fast) Alles hat seinen Sinn

Immer wieder ist dies ein Kriterium, nach dem die Qualität eines Tatortes beurteilt wird: Wie viel Sinn macht der Plot? Und, bis auf Kleinigkeiten, ist meist irgendwie alles schlüssig: Der Mord geschah aus einem bestimmten Grund, der für den Täter Sinn machte. Für die Ermittler besteht der Sinn des Mordes – ganz nüchtern – darin, dass sie ihn aufklären müssen. Und da schließt sich der Kreis: Ohne Greueltat könnte Gerechtigkeit nicht wiederhergestellt, das Böse könnte nicht besiegt werden. Und die Bedürfnisse des Publikums könnten nicht gestillt werden. Denn schon im Alltag zeigt unsere häufige Frage nach dem „Warum“, dass wir es uns dringend wünschen, den Sinn der Dinge und Ereignisse zu verstehen, die uns widerfahren.

Hier muss man aber einhaken: Die Sinnfrage ist eine, die sich theoretisch in jedem Tatort oder Kriminalfilm geradezu aufdrängt. Leben und Tod gehen hier oft Hand in Hand, denn hier wird gestorben, was das Zeug hält. Wirklich elementare Fragen des Lebens werden aber nicht behandelt – schnell verlöre das abendliche Entertainment den Unterhaltungswert, wäre das der Fall. Seelsorger oder Psychologen etwa, die Angehörige eines Mordopfers begleiten, spielen im Tatort keine Rolle. Wäre es zu tiefgründig, die wirklich elementaren Probleme und Fragen nach dem Sinn zu behandeln – oder zumindest zu thematisieren?

5. Die Titel

Dass auch bei der Titelgebung des Tatortes mit transzendentalen Bezügen gespielt wird, zeigt eine einfache Auflistung entsprechender Tator-Titel. Natürlich nur auszugsweise die, die mir nach einem kurzen Blick auf die Komplettliste aufgefallen sind:

  • Glaube, Liebe, Tod (Folge 769)
  • Operation Hiob (767)
  • Im Sog des Bösen (736)
  • Gesang der Toten Dinge (728)
  • Höllenfahrt (726)
  • Baum der Erlösung (717)
  • Blinder Glaube (703)
  • Racheengel (667)
  • Engel der Nacht (662)
  • Stirb und werde (574)
  • Das Böse (552)
  • Die apokalyptischen Reiter (425)

Nicht nur Anspielungen auf biblische Motive wie „Baum der Erlösung“ oder „Die apokalyptischen Reiter“ finden sich hier. Auch ganz unspezifisch wird mit Vorstellungen der Zuschauer gespielt, wenn zum Beispiel „Engel“ oder „Das (personifizierte ?) Böse“  in den Titeln verarbeitet werden.

Auch wenn der Tatort sich meist um grausame Verbrechen dreht – viele, mich eingeschlossen, lassen sich gerne in diese Welt entführen, die zwar in der unsrigen spielt, damit aber wenig zu tun hat. Es ist eine fiktive Welt, in der das Gute siegt, die Gerechtigkeit immer das letzte Wort hat, in der (oberflächliche) Sinnfragen aufgeworfen und schlüssig beantwortet werden. Doch die Tatort-Welt hat einen Nachteil: Sie geht allwöchentlich um 21.45 Uhr unter.

Veröffentlicht von Fabian M.

Fabian Maysenhölder, Diplom-Theologe und Online-Journalist, ist Herausgeber des Blogs "Theopop". Während seiner Berliner Studienzeit wurde bei ihm in einem Seminar zu dem Thema „Kirche in den elektronischen Medien“ Interesse für diesen Forschungsbereich geweckt, der immer mehr an Bedeutung gewinnt – nicht nur für die kirchliche Öffentlichkeitsarbeit. In seiner Freizeit spielt er Badminton und engagiert sich ehrenamtlich in der Straffälligenhilfe.

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