„Olympismus ist eine Lebensphilosophie, die in ausgewogener Ganzheit körperliche, willensmäßige und geistige Fähigkeiten erhöht und kombiniert. Indem Sport mit Kultur und Bildung verbunden wird, strebt der Olympismus danach, einen Lebensstil zu gestalten, der auf der Freude an (körperlicher) Leistung, dem erzieherischem Wert des guten Beispiels, sozialer Verantwortlichkeit und dem Respekt für universelle fundamentale ethische Prinzipien beruht. Das Ziel des Olympismus ist, den Sport in den Dienst einer harmonischen Entwicklung der Menschheit zu stellen, im Hinblick darauf, eine friedliche Gesellschaft voranzubringen, die sich um die Wahrung der menschlichen Würde sorgt.“

So lauten die ersten beiden fundamentalen Prinzipien des sogenannten „Olympismus“ (nachzulesen in der Olympischen Charta). Der Olympismus ist diejenige Bewegung, die Ende des 19. Jahrhunderts von Pierre de Coubertin, dem Begründer der olympischen Spiele der Neuzeit, ins Leben gerufen wurde. Auch heute noch sehen sich die Olympia-Organisatoren diesem „Olympischen Geist“ verpflichtet.

Und, gelingt es nicht gut? Mehr als 10.000 Athleten versammeln sich derzeit bei den Olympischen Spielen in London. Und dennoch bleibt es, zum ganz großen Teil, ohne Reibereien und Skandale. Olympia. Eine friedliche Zusammenkunft von Sportlern aus aller Welt. Und allen geht es – zumindest vordergründig – nur um eines: faire Wettkämpfe, Respekt vor der Leistung der anderen, egal, wo sie herkommen. Hier weht der Olympische Geist! Und wer zuhause die Wettkämpfe verfolgt, der merkt, dass dieser Geist auch medial weht. Durch Begeisterung im wahrsten Sinne des Wortes. Man muss sich nur obiges Video anschauen, um davon ein wenig zu spüren.

Es scheint tatsächlich so zu sein, wie es die Prinzipien wollen: Olympia trägt durch die Verbreitung dieser Idee dazu bei, die Menschheit zusammenzubringen. Die Welt ist in diesen Tagen ein Olympisches Dorf. Mehr als 200 Nationen kommen hier auf sportlicher Ebene zusammen, auch wenn es politisch große Auseinandersetzungen gibt. Unterschiede gibt es hier – außer den sportlichen Leistungen – keine. Es ist egal, ob AthletInnen aus Syrien oder Nordkorea kommen, es ist egal, wer mit wem im Clinch liegt oder wer wessen Grenzen mit rostigem Stacheldraht umzäunt. Bei Olympia gibt es keinen Krieg. Denn der Olympische Geist ist  friedlich, fair und respektvoll. In gewisser Weise wird man an Hans Küngs „Projekt Weltethos“ erinnert, das ähnliche Ziele verfolgt. Und Küng selbst nennt Sport als ein positives Beispiel dafür, dass Zusammenleben aufgrund eines gemeinsamen Ethos, das seiner Ansicht nach allen großen Weltreligionen und- anschauungen zugrunde liegt, gelingen kann.

 Ethos des Sports vs. Ethos der Gesellschaft

Es sind wertvolle und lohnende Ziele und Anliegen, die sich die „Olympische Bewegung“ auf die Ringe schreibt. Und sie sind unterstützenswert, auch wenn sich eine utopische Dimension nicht abstreiten lässt. Es schließen sich jedoch Fagen an, die zu einer Sensibilisierung führen können und müssen. Zum Beispiel: Woher stammt das Ethos, das dem Olympismus zugrunde liegt – aus dem Sport selbst? Und was heißt eigentlich „universell“? Das sind nur zwei kurze Fragen. Aber schon alleine über deren Beantwortung ließe sich trefflich streiten.

Zum Denken anregen könnte etwa die Position des Systematischen Theologen Eilert Herms:

„Obwohl das Sporttreiben und der Sportkonsum ethische Phänomene sind, denen jeweils ein deklariertes und gelebtes Ethos immanent sind, fragt sich doch, ob es sich dabei um so etwas wie ein eigenes Ethos des Sports handelt, das in ihm selbst begründet ist und aus ihm selbst stammt. Diese Frage ist meines Erachtens zu verneinen.“ (Lit.)

Herms argumentiert, jede Kultur habe stets  den Sport nach ihrem jeweiligen Weltbild, Menschenverständnis und Ethos gestaltet. Und außerhalb eines gesamtkulturellen Systems könne kein Sport bestehen. Kurz: Nicht der Sport hat ein eigenes Ethos, sondern er adaptiert das Ethos der jeweiligen Kultur. Gerade in unserer heutigen pluralistischen Öffentlichkeit gelte dies ebenso. Herms:

„Es ist ihre Liberalität und Offenheit, die heute das deklarierte Ethos und Regelwerk des betriebenen Sports, die Satzungen der Sportorganisationen und die Ziele der Sportpolitik bestimmen.“ (Lit.)

Die Olympischen Spiele vertreten die Ideale unserer „westlichen Kultur“. Aber nicht, weil es der Sport selbst so fordert, sondern weil die Olympischen Spiele der Neuzeit in diesem Kulturrahmen stattfinden.

So ist es nicht verwunderlich, dass sich die Olympischen Spiele auch immer im Wandel befinden – und damit auch ein in den Prinzipien festgehaltener „universeller Anspruch“ der Spiele. Um das Problem hierbei deutlich zu machen, hilft es, auf die Antike zu verweisen; auch damals hatten die Olympischen Spiele einen universellen Anspruch, was sich schon zum Beispiel dadurch zeigt, dass sie Teil der panhellenischen Spiele waren. Doch Frauen, Sklaven und Nicht-Griechen waren von den Wettkämpfen ausgeschlossen. Ist das ein Universalismus, wie wir ihn heute verstehen würden? Sicher nicht. Auch bei den ersten Spielen der Neuzeit im Jahr 1896 waren noch keine Frauen zugelassen, sie wurden offenbar erst mit dem Jahr 1900 Teil der „Olympischen Universalität“. Auch hier ist es wichtig, nicht aus dem Blick zu verlieren: Auch das Verständnis von „Universalismus“ ist abhängig von Kultur, Gesellschaft und Menschenbild.

Olympia = Völkerverständigung?

Der Olympische Geist ist ein wertvoller, aber er darf nicht überschätzt werden. Wenn alle Differenzen angesichts der Wettkämpfe verklingen, wenn Sportler aus Kriegs- oder Krisengebieten hier unterschiedslos akzeptiert werden, dann weht hier die Brise einer „besseren Welt“, die viele sich in ferner Zukunft einmal wünschen. Diese zwei Wochen der Olympischen Wettkämpfe – bringen sie die Welt ein Stückchen näher zusammen? Ich überlasse hier wieder Eilert Herms das Wort, denn treffender könnte ich nicht formulieren:

„Der Olympische Wettkampf […] und die olympische Organisation tragen ja nicht dadurch zur Verständigung der Kulturen bei, dass sie deren verschiedene Sichtweisen des Daseins und entsprechend verschiedenen Idealen explizit aufgriffen, kommunizieren würden und zur Verständigung bringen würden. Sondern sie vereinigen diese Vielfalt von Differenten, indem sie die alle unter einem faszinierenden Schauspiel versammeln, welches solange es währt all diese Unterschiede zum verstummen bringt.“ (Lit.)

In der Tat: die Welt scheint aus olympischer Sicht zu einem kleinen, friedlichen Dorf zu werden. Differenzen verstummen und lösen sich im sportlichen Spektakel auf. Doch wahre und langfristige Verständigung kann nicht durch das Ignorieren von Differenzen geschehen. Da braucht es mehr – und der „Olympische Geist“ kann allenfalls ein kleiner Teil davon sein.

Veröffentlicht von Fabian M.

Fabian Maysenhölder, Diplom-Theologe und Online-Journalist, ist Herausgeber des Blogs "Theopop". Während seiner Berliner Studienzeit wurde bei ihm in einem Seminar zu dem Thema „Kirche in den elektronischen Medien“ Interesse für diesen Forschungsbereich geweckt, der immer mehr an Bedeutung gewinnt – nicht nur für die kirchliche Öffentlichkeitsarbeit. In seiner Freizeit spielt er Badminton und engagiert sich ehrenamtlich in der Straffälligenhilfe.