„Das Smartphone ist mein externes Gehirn“, sagte einmal ein Bekannter. Und in der Tat: Den Stellenwert eines Körperteils, das man besser nicht vergessen sollte, hat es bei vielen schon lange inne. Ob in der U-Bahn, an der Bushaltestelle oder an der Kasse im Supermarkt – das „schlaue Telefon“ ist immer griffbereit. Und nicht nur das. Es wird auch exzessiv genutzt, in jeder freien Minute. So manch einer scheut nicht einmal davor zurück, beim abendlichen Bier mit Freunden im Fünf-Minuten-Takt seine Emails zu checken.
Doch das Smartphone an sich wäre gar nicht mehr als ein einfaches Telefon, gäbe es nicht das Internet, das uns immer und überall umgibt. Der Kommunikationstheoretiker Marshall McLuhan hat schon vor 50 Jahren – lange, bevor das Internet im Gespräch war – Medien als Erweiterungen unserer Sinne bezeichnet. Das Internet bewahrheitet diese Beschreibung wie kein anderes Medium zuvor. Mehr noch: Es ist zu einem unpersonifizierten Gott geworden, der uns immer und überall umgibt. Der alles weiß. Der immer da ist, wenn wir unsere Sorgen loswerden wollen – dank Smartphone, Google Glass oder der iWatch haben wir jederzeit die Möglichkeit, mit diesem Gott zu kommunizieren.
Das Medium Internet erweitert nicht nur unsere Sinne. Es ist zu einem Teil unseres Alltags geworden – und vielleicht bereits zu einem Teil unserer Identität. Wir selbst bekommen Fähigkeiten, die man zweifelsohne als göttlich bezeichnen kann.
Google ist schneller
Wir sind allgegenwärtig. Der Kurznachrichtendienst Twitter etwa lässt uns – ob mit Text, Video oder Bild – an Geschehen an jedem beliebigen Ort der Welt teilhaben. Wir können problemlos mit den Menschen vor Ort kommunizieren: Gefühle, Eindrücke und Gedanken sind nur einen Mausklick entfernt. Livestreams nehmen uns mit hinein in Großveranstaltungen auf anderen Kontinenten, und Video-Chats ermöglichen uns, sich an Heilig Abend bei unseren Verwandten in Amerika einzuklinken. Die Vernetzung der Welt ermöglicht uns, an jedem beliebigen Ort zu sein. Wenn auch nicht körperlich, so doch mit den meisten unserer Sinne.
Wir sind allwissend. Früher war Wissen teuer und nicht sofort verfügbar. Schwere Bücher mussten gekauft, geschleppt und gelesen werden. Heute reicht es, in das Mikrofon des Smartphones zu fragen, wer der erste Bundeskanzler war. Es wird zunehmend zur Zeitverschwendung, sich Informationen dauerhaft anzueignen. Bis die Synapsen im Gehirn sie wieder preisgeben, hat auch Google schon geantwortet.
Das Internet besitzt folglich nicht nur selbst wesentliche Attribute des Göttlichen, es gibt sie auch an uns weiter. Das ist eine große technologische Errungenschaft. Auch wenn die einzelnen Aspekte freilich nicht in ihrer Gänze erfüllt werden, so werden uns Menschen doch viele Dinge ermöglicht, die bisher in den Bereich der Science-Fiction fielen.
Sind wir überfordert?
Schon bevor wir das richtig realisiert haben, werden aber erste Verfallsmerkmale sichtbar: Wir sind als Götter überfordert. Menschen verzweifeln, weil wir zum Beispiel mit der Allgegenwart nicht umgehen können. Etwa im Falle eines pummeligen Jugendlichen, der als „Star Wars Kid“ Internet-Geschichte schrieb: Der Junge nahm ein Video von sich beim ungeschickten Lichterschwert-Kampf auf, das nie an die Öffentlichkeit gelangen sollte. Schulkameraden fanden es dennoch und verbreiteten es im Internet. Die Folge: Hohn, Spott, Mobbing und Schulwechsel. Der Teenager musste am Ende in psychologische Behandlung.
Die Allwissenheit entpuppt sich bei näherer Betrachtung als Illusion: Wissen kann nicht in Datenbanken abgespeichert werden. Das Internet liefert uns nur Information. Wissen entsteht erst dort, wo diese Informationen verarbeitet, wo Zusammenhänge hergestellt und verstanden werden. Was nützt es uns, wenn wir uns durch Myriaden von Datensätzen klicken – uns aber die Fähigkeit fehlt, diese in den richtigen Kontext zu setzen und auf die richtigen Fragestellungen anzuwenden? In dieser Hinsicht ist die angebliche Allwissenheit, die uns das Internet verschafft, mehr Herausforderung als Erleichterung. Denn die Informationen, die wir einordnen müssen, haben sich vervielfacht.
Sind wir also heillos überfordert? Werfen wir bald jede soziale Interaktion in der Offline-Welt zugunsten der uns vermeintlich versprochenen Fähigkeiten über Bord, starren nur noch auf unsere Smartphone-Bildschirme? Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass wir uns auch mit vergangenen Medienrevolutionen arrangiert haben. Doch eine gewisse Bodenhaftung tut in diesem Prozess gut. Und vielleicht die Erkenntnis, dass Allgegenwart und Allwissenheit aus gutem Grund Attribute sind, die einem Gott zugeschrieben werden, der über den Dingen steht.
[Dieser Text erschien in einer leicht abgewandelten Version zuvor bereits am 26. September 2014 in der Zeitschrift Publik-Forum (18/2014), Postfach 2010, 61410 Oberursel.]