Der Zirkel ist fast komplett. Der Bundestagswahlkampf forderte Sicherheit durch mehr Kameras. Jedesmal wenn ich am Südkreuz bin, falle ich fast hin, weil ich den Bodenmarkierungen folgen muss, die dafür sorgen, dass ich gerade nicht von der Gesichts- und Verhaltenserkennungssoftware erfasst werde. Das Summen von Polizeidrohnen am Brandenburger Tor und im Tiergarten wird langsam gewohnt. Der Überwachsungszirkel ist fast fertig.
The Circle, der Roman von Dave Eggers, dessen Verfilmung gerade in den Kinos läuft (zugegeben mittelmäßig, aber als Buch einflussreich), scheint die Gegenwart ganz gut erkannt zu haben. Die Protagonistin Mae Holland (immerhin Emma Watson) schafft es endlich einen Job zu landen bei dem Unternehmen, das in der Vermessung des gläsernen Menschen Google, Facebook und co. schon lange überholt hat. Mae ordnet sich dort in einem Glaspalast in einen Alltag ein, in dem jede Bewegung überwacht wird. Der Circle ist in Eggers‘ Buch eine Metapher für die sektenartige Firmenpolitik, für vieles andere aber auch für die Architektur. Der Anspruch auf Leben und Raum der neuen Großunternehmen manifestiert sich eben auch in Gebäuden wie dem, das Apple gerade in Auftrag gegeben hat. Der Zirkel dominiert Gemeinschaft. In ihm verbindet sich eine neue Selbststeigerungs-Spiritualität der Silicon-Valley-Unternehmenskultur mit Überwachungstechnologien. ((Vgl. Joachim von Soosten, Myrthenduft und Gartenlust, Meister Eckhart in Silicon Valley, PrTh, 3 (2017), 140-145.))
Mae löst eine Kulturrevolution aus, als sie beginnt, non-stop ihr Leben über eine Kamera an Millionen übertragen zu lassen. Der Circle nennt das „clear“ werden oder „transparent“ werden und die gesamte Politik macht mit. Wie das aussieht, zeigt auch die Black-Mirror-Folge „The Entire History of You“, in der sich alle Menschen ihr gesamtes Leben filmen und jederzeit zurückspulen und auf Bildschirmen Erinnerungen visualisieren können.
„Und kein Geschöpf ist vor ihm verborgen“
Mae wird berühmt. Sie schlägt vor, jede Bürger_in mit einem Circle-Account zum Wählen zu verpflichten und alle Daten über Schüler_innen, medizinische Dokumente, Führerscheinangelegenheiten komplett in die Hand des Privatunternehmens The Circle zu geben. In der Nacht, in der Mae das feiert, da trifft sie auf einen Theologen. Oder eher, einen ehemaligen Theologen, der ins Silicon Valley gegangen ist. Und der sagt:
Du hast einen Weg gefunden, alle Seelen zu retten. Das haben wir in der Kirche probiert, alle zu retten. Wie sollte man sie alle retten? Das war die Arbeit von Missionaren für Jahrtausende. Du und deine Leute beim Circle, ihr werdet alle Seelen retten. […] Jetzt werden alle Menschen die Augen Gottes haben. Kennst du die Bibelpassage? Alle Dinge sind nackt und offen unter den Augen Gottes. Jetzt sind wir alle Gott Jeder von uns wird bald sehen und richten können über jeden anderen. Wir werden sehen, was ER sieht. Wir werden sein Gericht ausüben. Wir werden Seinen Zorn kanalisieren und seine Vergebung verteilen. Auf einem konstanten und globalen Level. Jede Religion hat genau auf das gewartet, wenn endlich jeder Mensch ein direkten und unmittelbarer Botschafter von Gottes Willen wird.
Der Silicon-Valley-Theologe zitiert Hebr. 4,13: „Und kein Geschöpf ist vor ihm verborgen, sondern es ist alles bloß und aufgedeckt vor den Augen dessen, dem wir Rechenschaft geben müssen. Da geht es um Furcht und um Unruhe von Ungehorsam und Gericht.“
Im Buch bricht Mae in Lachen aus. Aber eigentlich zeigt sich hier eine interessante Verschiebung der Beobachtung und Beobachtbarkeit im Christentum in der Popkultur und Öffentlichkeit. Amerikanische Kirchen werden von Sicherheitsunternehmen mit Sacred Security beworben, Videoüberwachung für Heilige Räume. Weil die Leute Angst haben. Dazu gibt’s kugelsichere Altarverkleidungen. Nur für Christen, nicht für Buddhisten oder Muslime. Wir kleben unsere Notebookcameras ab. Und der konservativere Flügel schreit selbst in Großbritannien nach mehr Kameras in der Öffentlichkeit. Der Zirkel ist komplett, wenn alle alle überwachen können, so die These des Buchs. Die These vieler?
Aber es zeigt sich auch ein Zirkel der Überwachung, wie ihn vor allem der Protestantismus hervorgebracht hat. Gottes allessehendes Auge. Gott sieht, wenn der Timmy masturbiert und dann weint Jesus. Die Vorstellung, das Gott alles und jeden sieht.
Nicolaus von Kues hat ließ in einer Abtei ein Bild von Jesus anbringen, dessen Augen den Mönchen folgte. Und es war Ruhe. Die Augen Gottes klagen Menschen auf Billboards an, im Great Gatsby wie auf den Highways von Trumps Amerika heute. Michel Foucault hat beschrieben, wie über den ägyptischen Monotheismus, das Judentum bis hin zum Christentum, das Beobachtetwerden das Sich-Selbst-Beobachten der Antike abgelöst hat. Menschen begannen, Pfarrern oder Mönchen ihr Innerstes sichtbar zu machen statt sich selbst darum zu kümmern. Wie Gefängnis und Schule haben auch die Kirche und ihre Architektur sich bemüht, dass die Pastoren die anderen gut sehen und beobachten können. Allbekannt ist Benthams Panopticon-Überwachungsturm des Rundgefängnisses, durch das man alle zentral sehen kann, ohne selbst gesehen zu werden.
Die Kanzel ist im Protestantismus nicht nur zum Hören des Wortes, sondern auch dafür, dass der Pfarrer, vicarius-dei-style, die Anwesenden beim Hören gut beobachten kann. Und das allsehende Auge hinten an der Kirche erinnert daran, dass auch ER zuschaut, der Gott der permant surveillance. Aber was passiert, wenn dazu noch ein Plastik-Auge kommt, das ab und zu surrt und blinkt? Kameras sind vielleicht ein Bild für die Moderne, nur dass wir sie selbst auf uns richten.
Theologie muss Stellung beziehen
Wie verändert sich Alltags-Leben und was ändert sich an heiligen Räumen, wenn man permanent beobachtet wird und alles für immer archiviert wird. Was passiert, wenn eintrifft, was der Silicon-Valley-Theologe und das Circle-Buch voraussagen? Gibt es eine neue öffentliche Moral und weniger Kriminalität?
Was wäre eine Theologie der CCTV-Überwachung, wenn wir die Kameras im öffentlichen Raum in ihre Geschichte der Überwachungstechnologien einordnen, bei der das Christentum mit seinen Bildern und Praktiken am einflussreichsten war? Dass all-sehende Auge, was bedeutet es für unser Verhalten, für unsere öffentliche Glaubenspraxis, wenn Kameras an die Stelle eines imaginierten göttlichen Beobachters treten. Vielleicht ist es gut, Menschen an Stelle von Gott zu stellen, wo ich Gott als Überwachungsinstanz grob verzerrt empfinde und mich über Rückzugsorte auch vor Gottes Präsenz im Alltag und im Privaten freue.
Vielleicht ist es aber besser, sich von Gott beschützt und beobachtet zu fühlen, als von anderen Menschen, weil unsere menschliche Gerechtigkeit nicht die gnädige und revolutionäre Gnade Gottes sein kann. Auf jeden Fall gilt es, theologisch Stellung zu beziehen, bevor wir Überwachungstechnologien unhinterfragt übernehmen. Was begonnen hat, ist, wie ein Kommentator von Benthams Beobachtungserfindung sagte und heute noch mehr gilt denn je: Der erste Schritt in der Konstruktion Gottes. Der Zirkel ist fast vollendet.