Auch wenn die Aussteller_innen es nicht geplant hatten und Gottesdienst in der neuen Ausstellung „Deutscher Kolonialismus – Fragmente seiner Geschichte und Gegenwart“ im Deutschen Historischen Museum (DHM) nicht richtig zum Thema wird, gibt es doch vier Objekte, anhand derer sich die Perspektive und der Ansatz postkolonialer Theologie und Liturgie geradezu aufzwingt, wie sie in Deutschland gerade Fuß fasst.

Eine Uhr. Ein Blatt Papier. Eine Tonaufahme. Eine Figur.

Folgt man diesen Gegenständen, kann mit einem kleinen Rundgang durch die Ausstellung der Zusammenhang zwischen kolonialistischem Denken und Gottesdienst und die befreiende und kritische Perspektive einer postkolonialen Auseinandersetzung mit Gottesdienst-Feiern deutlich werden.

1. Deutsche Reichs-Colonial-Uhr, 1905 (Kat.-Nr. 1-32)

(Bild: Deutsches Historisches Museum)
(Bild: Deutsches Historisches Museum)

Die massenweise produzierte Uhr, ein Highlight der Ausstellung im DHM, zeigt die Ortszeiten der deutschen Kolonien an und demonstriert den imperialistische Anspruch „Kein Sonnenuntergang in unserm Reich“, den schon Karl V. im 16. Jahrhundert hatte.

Für eine postkoloniale Perspektive auf das koloniale Erbe und die koloniale Logik westeuropäischer Gottesdienstgestaltung visualisiert die Kolonialuhr etwas anderes: Den Anspruch, dass die westeuropäische Version des Kirchenjahres und der Gottesdienstformen des 19. Jahrhunderts gleiche Gültigkeit für den ganzen Globus haben soll. Die lokalen Unterschiede der Jahreszeiten, Naturerscheinungen und öffentlichen Feste wurden in den Anweisungen (männlicher) Missionare nivelliert.

Als Teil des europäischen Expansionismus wurde eine weltumspannende Zeit – auch für die Feier von Gottesdiensten und Jahresfesten – eingeführt, die Menschen überall – dem viktorianischen und industriellen Zeitregime folgend – synchronisieren und Gottesdienst standardisieren. Die Zeitvorstellung des Christentums des 19. Jahrhunderts mit dem Ideal einer Kulmination der Weltgeschichte in einem gemeinsamen Ziel, das Kirche, Staat und Wirtschaft durch immer größeres Wachstum und Expansion verfolgen, wird universell.

2. Sammlung vierstimmiger Gesänge für gemischten Chor, gesammelt von E. Bürgi 1901 und 1906 (Kat.-Nr.3-6)

Der Schweizer Missionar Ernst Bürgi stellt ab 1880 im Rahmen seiner Schultätigkeit in Togo Liedersammlungen zusammen und verfasst Texte zugleich in der Sprache der Ewe aus dem südlichen Ghana und in Deutsch. Die Lieder des Missionars waren Bestandteil umfassender Materialien für den Schulbetrieb der Missionsstationen. Dieses Liedblatt, auf dem der Text in der Ewe-Sprache in jeder Zeile über dem Deutschen steht, visualisiert für eine postkoloniale Perspektive auf Gottesdienst zwei Dinge:

Erstens, die Sprache der Ewe wird mit dem Deutschen gleichgesetzt und so linguistisch erschlossen. Unübersetzbares oder der deutschen Sprachlogik Widerstehendes fällt weg. Ewe wird neu in ein Alphabet eingeordnet und Tabellen mit möglichen Lauten und Tonhöhen werden festgelegt. Die Bewegung der lokalen Sprache – und ihrer Möglichkeiten, von Transzendenz zu reden, werden nach deutsch-westeuropäischer Rationalität kodifiziert, gelenkt und festgesetzt.

Zweitens, die Art und Weise gemeinsam zu singen, wird eingeübt und festgelegt und an die Worte der Missionar_innen gebunden. Die unterschiedlichen Möglichkeiten zu singen, abhängig von Training, Thorax, Lungenvolumen etc. werden jetzt in vier Stimmen, in ‚männlich‘ oder ‚weiblich‘ gezwängt. Was als ‚richtiges‘ Singen zählen darf, wird so eingeübt, dass Gottesdienst-Feiern und koloniale Pädagogik ineinander fallen. Zugleich wird festgelegt, mit welchen Klängen und Worten und nach welchen Noten und ‚Stimmen‘ man Gott anbeten darf.

3. Tonaufnahme des Kriegsgefangenen Gangaram Gurung

Das dritte Objekt ist unsichtbar. Es handelt sich um eine Schellack-Schallplattenaufnahme eines indischen  Kriegsgefangenen in Wünsdorf bei Berlin, die die Königlich-Preussische Phonographische Kommission am 31.5.1916 für die akademische Sprachforschung anfertigen ließ. Die Schallplatte ist im Besitz der Humboldt-Universität.

Die Aufnahme ist relevant für eine postkoloniale Perspektive auf Gottesdienst, weil Gangaram Gurung einen biblischen Text mit einem leichten britischen Akzent mit rauher und trauriger spricht: Die Geschichte vom verlorenen Sohn (LK 15). Seine Stimme kann man gleich zu Beginn der BBC Dokumentation „The Gostly Voices of World War I“ hören. Ein Kriegsgefangener, der aus Indien nach Deutschland gebracht wird, erzählt eine auswendig gelernte Geschichte vom verlorenen Sohn. Was diese Übertragungen und Deplatzierungen für den biblischen Text und seinen Sprecher bedeuten, könnte Bände füllen. Wichtig ist jedoch, dass für die wissenschaftliche Erfassung von Sprache, für die Grundsteine der modernen Sprachwissenschaften, solche auswendig gelernten biblischen Texte eingesetzt wurden. Eine spezifische Version von vielen möglichen, eine Übersetzung der Geschichte vom verlorenen Sohn aus der King James Bible wird zur Messlatte von Akzent, Prosodie, Intonation, Sprachstufe u.v.a.

Spannend für eine postkoloniale Sichtweise auf die Rolle der Bibel als etwas, das nicht nur für pädagogisch-koloniale Zwecke wiederholt wird, sind die kleinen Veränderungen, Einfügungen und Kommentare, der Rhythmus und Gangaram Gurungs eigener Singsang, die die Menschen in den Lagern der Kolonialmächte zu den Geschichten hinzufügen und die auch in der Tonsammlungen der Archive mehr und mehr in den Fokus kommen.

4. Figur eines Missionars, Westafrika (Kat.-Nr.1-11)

(Bild: GRASSI Museum für Völkerkunde zu Leipzig, Staatliche Kunstsammlungen Dresden)
(Bild: GRASSI Museum für Völkerkunde zu Leipzig, Staatliche Kunstsammlungen Dresden)

Eine ironische Aneignung der Regeln, sich als ‚guter Christenmensch‘ zu kleiden, zu bewegen, die Regeln des Redens und öffentlichen Auftreten, kurz der Habitus des viktorianischen Christentums, findet sich im letzten Objekt des kurzen Rundgangs.

Die Figur kann nicht datiert werden. Und auf eine ungewöhnliche Weise ist sie zeitlos. Sie ist zugleich eine Art des künstlerischen Nachäffens und Karikierens der Missionare. Die Figur sieht unsicher aus, aber auch streng. Die Kleidung wirkt unpraktisch. Ein bisschen Gender-Bending lässt sich vielleicht erkennen, denn für heutige Augen sieht der Missionar aus wie Marry Poppins. Die Hände sind nach westeuropäisch-christlicher Manier gefaltet und der Körper wirkt statisch. Und zugleich war diese Karikatur von einem Missionar eben auch ein Souvenir, das sich Westeuropäer kauften und in dem sie sich gespiegelt wieder mit nach Hause nehmen konnten.

In einem universellen System von Zeiten, in festgelegten Stimmen, Übersetzungen, Kleidungsstilen und Haltungen hat eine koloniale Denkart versucht die Sinneswahrnehmungen Eroberter zu trainieren, Selbstverständnisse, Konstruktionen von Gender, Weltsicht und Körpern für unterworfene Menschen festzulegen. Kolonisierte haben immer wieder in diese Prozesse eingegriffen, zum Offiziellen neues hinzugefügt, karikiert, dekonstruiert und rekonstruiert. Sie haben aus Positionen der Machtlosigkeit ihre eigenen Überlebensstrategien und Bedeutungen eingebracht und alte und neue Weisen Gottesdienst zu feiern und Gott zu verstehen verbunden – ein Aufstand von unterworfenem Wissen, der für die Zukunft des Gottesdienstes ein unerlässliches Korrektiv darstellt.

Konsequenzen für die Gottesdienstpraxis

Die Erforschung und die Praxis des Gottesdienstfeierns können von Spuren kolonialen Denkens und postkolonialer Aufstände lernen, die Lieder, Texte, Symbole und Bewegungen des Gottesdienstes auf alte und neue (neo-)koloniale Einflüsse zu untersuchen.

Das bedeutet:

  • Wahrzunehmen, dass die Heterogenität der Menschen, die am Gottesdienst teilnehmen, immer mehr zunimmt: Planende und Mitfeiernde nehmen am Gottesdienst auf ganz unterschiedlichen Ebenen teil, weil sie kulturell unterschiedlich geprägt wurden, kognitive und verbalsprachliche Inhalte unterschiedlich aufnehmen und in mehr als nur einer Sprache ‚denken‘.
  • Angesichts dieser neuen Diversität kritisch zu hinterfragen, welche Perspektive, Erfahrungen, Selbstverständnisse und Wissensbestände berücksichtigt werden und welche dafür ausgeschlossen und unterdrückt werden.
  • Zu identifizieren, was vom Gottesdienst als Zentrum der Welt verstanden und gemacht wird und was dabei unsichtbar gemacht und in eine Randstellung verschoben wird (Was ist z.B. eindeutig eurozentristisch, sexistisch oder expansionistisch an den Liedern, Texten und Ritualen?)
  • Zu verstehen, dass jedes erneute Feiern des Gottesdienstes sich öffnet für Überraschungen und Verschiebungen, Verunreinigungen jeder Tradition – und die vermeintliche Einheitlichkeit, Abgeschlossenheit und Sicherheit einer Gottesdienstgemeinschaft aufzugeben, wo weiße deutsche Bildungsbürger in nur einer Sprache und mit einer Stimme Gottesdienst feiert und dabei unter sich bleiben. Es hat sie nie gegeben.

Die Ausstellung „Deutscher Kolonialismus – Fragmente seiner Geschichte und Gegenwart“ im Deutschen Historischen Museum in Berlin kann noch bis zum 14. Mai 2017 besucht werden.

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