Azurblauer Himmel, dazu heiße Rhythmen und kaltes Eis. Keine Frage: in diese Strandidylle, die die Berliner Reggae-Dub-Dancehall-Band Seeed in ihrer aktuellen Single „Deine Zeit“ malt, lasse ich mich gerne mit hineinnehmen. Das Leben ist easy, entspannt und angenehm.
Doch leider ist das Glück nur von kurzer Dauer. Wolken ziehen auf, die den sonnigen Tag trüben: schlechtes Fernsehprogramm, schlechte Nachrichten, gähnende Monotonie des Alltags, fünf vor Zwölf, höchste Zeit zu intervenieren, weil die Garanten des Wohlstands und des Wohlergehens („Türme fallen, stehn im Schach“) sich gerade in Luft auflösen.
Seeed kontrastiert: erst weiß dann schwarz. Erst gut dann schlecht. Erst Party, dann Panik. Dabei geizt die Kapelle nicht mit biblischen Motiven, die sich wie Perlen einer Kette aneinander reihen.
Die Zwischenbilanz des ersten Schöpfungsberichtes „Und siehe, alles war sehr gut“ (1. Mose 1, 31) klingt an, wenn Seeed die Welt als „erste Wahl“ und „erste Welt“ qualifiziert. Ein Paradies, das mit einer der bekanntesten Phrasen des deuteronomistischen Geschichtswerkes charakterisiert wird: „Milch und Honig fließen“ (5. Mose 3,25; 5. Mose 31,20 uvm.).
Das Licht geht an, der Thron ist leer, keiner kommt und teilt das Meer, niemand sagt, uns wie es geht, niemand weiß den geraden Weg. Doch diese Zeit, ist deine Zeit, und du meinst, du seist noch nicht so weit, doch jeder Tag, ruft deinen Namen, du weißt, du hast keine Wahl. Diese Zeit ist deine Zeit.
Textzeilen aus dem Lied „Deine Zeit“.
Hier gibt’s den gesamten Liedtext.
Das Aufziehen der dunklen Wolken kommt dramaturgisch der Vertreibung aus dem Paradies gleich. Die sich anschließende dunkle Zeit ist vor allem durch die Abwesenheit einer charismatischen Führungspersönlichkeit und durch das Warten auf eine solche Person gekennzeichnet: „Niemand sagt uns wie es geht, niemand weiß, den geraden Weg.“
Die jüdisch-christliche Erwartung der Ankunft bzw. Wiederkunft des Messias klingt an. Ebenso der Exodus, der Auszug des Volkes Israel aus der Gefangenschaft in Ägypten unter der Führung Moses, der das Meer teilte. Doch der Thron, der Ort Gottes in der Offenbarung des Johannes, ist leer. Dieses Bild korrespondiert mit der gefühlten Ohnmacht angesichts fehlender politischer Autoritäten.
Bewusst oder unbewusst wird heilsgeschichtliche Semantik von der Schöpfung über den Exodus bis zum Kommen des Messias aufgegriffen und mit dem Hier und Jetzt kontrastiert. Fazit: „Keiner kommt.“ Die Gegenwart wird dadurch als Zeit der Gottesferne, als Zeit der Abwesenheit Gottes wahrgenommen. Dieser Zeit kann niemand entkommen. Die Zeit der schlechten Nachrichten ist eine Zeit der Gefangenschaft. Das Warten auf Veränderung kommt einem Warten auf Godot gleich.
Die entscheidende Frage ist: „Wer kommt und kettet sich, die Welt ans Bein?“ Wer ist bereit, Verantwortung zu übernehmen und diese Last zu tragen? Die Nähe zum Agnus Dei ist unverkennbar. „Christe, du Lamm Gottes, der du trägst die Sünd‘ der Welt“ ist die christliche Antwort auf die Frage, die Seeed stellt, selbst aber unbeantwortet lässt und stattdessen mit dem sanft modifizierten Jedi-Gruß „Möge die Macht mit ihm sein“ gönnerhaft ins „Star Wars“-Idiom abgleitet.
Die Lösung, die Seeed anbietet, um das Dilemma zu überwinden, drückt sich wesentlich in der Refrain-Zeile „Diese Zeit ist deine Zeit“ aus. Dem heilsgeschichtlichen Pessimismus, der nichts von Gott erwartet, wird ein zartes „Carpe diem“ vorangestellt, das zwischen den Zeilen zu hören ist.
Bibelfeste Hörerinnen und Hörer werden in der Zeile „Jeder Tag ruft deinen Namen“ Anklänge an Jesaja 43,1 entdecken (Gott spricht: „Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Du bist mein.“) Aus den Berufungsgeschichten des ersten Testamentes dürfte das Motiv der mangelnden Qualifikation („Du meinst, du seist noch nicht so weit“) entlehnt sein.
Gegen den vermuteten Widerstand des Adressaten unterstreicht Seeed die eigene Botschaft durch immergleiche Wiederholungen des „Diese Zeit ist deine Zeit.“ Hier geht es darum, nicht nur die positiven Seiten des Lebens zu genießen, sondern selber aktiv zu werden und etwas gegen die dunklen Schatten (Herr der Ringe-Fans werden sich erinnern) zu tun.
Fazit der Band: Es gibt keine Alternative. Du musst das Heft selbst in die Hand nehmen. Augen zu und durch. Carpe diem.
Mein Fazit: Schade, dass Seeed trotz der zahlreichen Anspielungen auf biblische Texte und Motive die eschatologischen Aussagen der Bibel ignoriert und stattdessen für ein persönliches Engagement plädiert. Diese Haltung trägt einer von Parusieverzögerung charakterisierten Realität Rechnung, obwohl sie nicht damit rechnet, dass Gott Unmögliches möglich machen kann.
„Deine Zeit“ von Seed:
Tolles Blog – wieso stoße ich erst jetzt darauf??? Ich unterrichte Religion an einem Berufskolleg und stelle fest, dass über Musik auch Maurer und Fliesenleger auf religiöse Themen hin ansprechbar sind. Dieser Song eignet sich sicherlich auch sehr gut für den Unterricht. Allerdings werden meine Schüler sich eher mit der Einstellung von Seeed identifizieren als mit der biblischen Botschaft. Interessant finde ich, dass Bands wie diese biblische Motive verwenden, auch wenn sie von vielen gar nicht mehr als solche erkannt werden. Vielleicht wirken diese Bilder ja qua Wort oder so, auch wenn Peter Fox das gar nicht will – und hängen bleibt immerhin die Hoffnung auf einen Erlöser, wär‘ ja schon mal ‚was…
P.S. Der Link im Post auf die Band Seeed führt mich zu einer Samenhandlung – ist das Absicht??? 😉
Danke für das Lob, freut mich, wenn dir das Blog gefällt!
Ich kann mir gut vorstellen, dass sich viele eher mit der Einstellung von Seeed identifizieren. Doch Positive daran ist, dass sie offenbar über eine solche Ebene zumindest ins Gespräch darüber kommen – und das ist ja schon eine ganze Menge wert.
Zum Link: Was so ein fehlendes „e“ ausmacht … 😉 Danke für den Hinweis, ich hab’s korrigiert!