Stell dir vor, es ist Weihnachten und die Welt geht unter. Noch bevor sich der streng katholische, 85-jährige Richard am Tag vor Heilig Abend auf dem Weg in die Frühmesse macht, erlebt er ein Wunder. Schon beim Aufstehen merkt er: Er kann wieder gut sehen! Was vorher verschwommen war, zeichnet sich plötzlich in klaren Konturen ab. In der Frühmesse ist er für den Lektorendienst eingeteilt. Und er ließt aus dem zweiten Petrusbrief, Kapitel 3. Er ließt vom Weltende, von der mächtigen Wiederkunft des Messias. „Ein Tag vor dem Herrn wie tausend Jahre ist und tausend Jahre wie ein Tag“, steht dort geschrieben. Und dann überkommt Richard seine Apokalypse, die Offenbarung: Dieser Tag ist morgen. Heilig Abend. Und dafür muss er bereit sein.
Matthias Matussek ist nicht bekannt für besinnliche Geschichten. Der Spiegel-Journalist und überzeugte Katholik ist eigentlich ein Freund klarer Worte, der sich auch nicht vor Auseinandersetzungen scheut. „Die Apokalypse nach Richard“ aber ist keine Streitschrift. Wer hier nach Action, Spannung, lauten Worten und mitreißender Handlung sucht, wird enttäuscht werden. Aber auch das Gegenteil ist nicht der Fall, denn mit einem kitschigen Märchen hat die Erzählung auch nicht viel zu tun.
Am ehesten könnte man das, was man auf den rund 180 Seiten liest, als eine „etwas andere“ Weihnachtsgeschichte beschreiben. Das Märchen von Richard erzählt, wie die Familie des Patriarchen an Heilig Abend zusammenkommt. Jedes seiner Kinder kommt aus einer eigenen Welt, der Enkel per abenteuerlichem Roadtrip direkt aus dem Internat. Richards Frau Waltraud spürt, dass sich etwas verändert hat bei ihrem Mann. Sie weiß es nicht so recht einzuordnen. Doch sie tut alles dafür, dass dieses Fest perfekt wird. Sie geht nämlich davon aus, dass dieses das letzte Weihnachtsfest sein wird, das Richard bewusst miterlebt: Die fortschreitende Demenz Richards zeichnet Waltraud beim Scrabble-Spiel die Tränen und dem Leser ein Lächeln ins Gesicht.
Wo sind die Wunder hin?
Es ist eine Geschichte voller kleiner Wunder; manche davon so klein, dass man sie selbst als aufmerksamer Leser kaum wahrnimmt. Matussek kritisiert, auf den ersten Seiten des Buches ex-, auf den anderen implizit, das Verschwinden der Wunder aus unserer Gesellschaft.
Der Begriff »Wunder« ist ein strahlendes Brückenwort, das unsere Welt mit einer anderen verbindet. Es verknüpft das Profane mit dem Heiligen. Doch da es das Heilige in unserem Horizont nicht mehr gibt, steht das »Wunder« mit einem Bein in der Leere, in einer entvölkerten, kaum betretenen Region. Es ist ein wenig verkommen. (S. 11)
„Die Apokalypse nach Richard“ lässt viel Spielraum für eigene Interpretation. Manche Szenen sind nur unscharf beschrieben, vor allem am Ende. Denn an Heilig Abend geschieht tatsächlich etwas. Die Offenbarung erfüllt sich, doch es bleibt die Aufgabe des Lesers, das Bild zu einem gesamten zusammenzufügen. Das Weihnachtsmärchen von Richard und seiner Familie ließt sich leicht und locker wie seichte Unterhaltung. Und die kann es auch sein. Wer jedoch die Bereitschaft mitbringt, sich auf diese Novelle einzulassen, der wird mit Tiefsinn belohnt.
Mit gekonnten gesellschaftskritischen Seitenhieben schärft Matussek den Blick für das Wesentliche. In eine laute, tosende Welt stellt er die festliche Geschichte von Richard, dem leicht dementen alten Mann, dem es an Weihnachten um nichts anderes als um die Ankunft des Erlösers geht. Und selbst wenn dann an Heilig Abend die Gans im Ofen explodiert, das perfekte Fest gescheitert scheint, dann kann Richard da nur lächeln. Und der Leser auch.
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