Koloniales Denken im Gottesdienst? Eine Spurensuche

Auch wenn die Aussteller_innen es nicht geplant hatten und Gottesdienst in der neuen Ausstellung „Deutscher Kolonialismus – Fragmente seiner Geschichte und Gegenwart“ im Deutschen Historischen Museum (DHM) nicht richtig zum Thema wird, gibt es doch vier Objekte, anhand derer sich die Perspektive und der Ansatz postkolonialer Theologie und Liturgie geradezu aufzwingt, wie sie in Deutschland gerade Fuß fasst.

Eine Uhr. Ein Blatt Papier. Eine Tonaufahme. Eine Figur.

Folgt man diesen Gegenständen, kann mit einem kleinen Rundgang durch die Ausstellung der Zusammenhang zwischen kolonialistischem Denken und Gottesdienst und die befreiende und kritische Perspektive einer postkolonialen Auseinandersetzung mit Gottesdienst-Feiern deutlich werden.

1. Deutsche Reichs-Colonial-Uhr, 1905 (Kat.-Nr. 1-32)

(Bild: Deutsches Historisches Museum)
(Bild: Deutsches Historisches Museum)

Die massenweise produzierte Uhr, ein Highlight der Ausstellung im DHM, zeigt die Ortszeiten der deutschen Kolonien an und demonstriert den imperialistische Anspruch „Kein Sonnenuntergang in unserm Reich“, den schon Karl V. im 16. Jahrhundert hatte.

Für eine postkoloniale Perspektive auf das koloniale Erbe und die koloniale Logik westeuropäischer Gottesdienstgestaltung visualisiert die Kolonialuhr etwas anderes: Den Anspruch, dass die westeuropäische Version des Kirchenjahres und der Gottesdienstformen des 19. Jahrhunderts gleiche Gültigkeit für den ganzen Globus haben soll. Die lokalen Unterschiede der Jahreszeiten, Naturerscheinungen und öffentlichen Feste wurden in den Anweisungen (männlicher) Missionare nivelliert.

Als Teil des europäischen Expansionismus wurde eine weltumspannende Zeit – auch für die Feier von Gottesdiensten und Jahresfesten – eingeführt, die Menschen überall – dem viktorianischen und industriellen Zeitregime folgend – synchronisieren und Gottesdienst standardisieren. Die Zeitvorstellung des Christentums des 19. Jahrhunderts mit dem Ideal einer Kulmination der Weltgeschichte in einem gemeinsamen Ziel, das Kirche, Staat und Wirtschaft durch immer größeres Wachstum und Expansion verfolgen, wird universell.

2. Sammlung vierstimmiger Gesänge für gemischten Chor, gesammelt von E. Bürgi 1901 und 1906 (Kat.-Nr.3-6)

Der Schweizer Missionar Ernst Bürgi stellt ab 1880 im Rahmen seiner Schultätigkeit in Togo Liedersammlungen zusammen und verfasst Texte zugleich in der Sprache der Ewe aus dem südlichen Ghana und in Deutsch. Die Lieder des Missionars waren Bestandteil umfassender Materialien für den Schulbetrieb der Missionsstationen. Dieses Liedblatt, auf dem der Text in der Ewe-Sprache in jeder Zeile über dem Deutschen steht, visualisiert für eine postkoloniale Perspektive auf Gottesdienst zwei Dinge:

Erstens, die Sprache der Ewe wird mit dem Deutschen gleichgesetzt und so linguistisch erschlossen. Unübersetzbares oder der deutschen Sprachlogik Widerstehendes fällt weg. Ewe wird neu in ein Alphabet eingeordnet und Tabellen mit möglichen Lauten und Tonhöhen werden festgelegt. Die Bewegung der lokalen Sprache – und ihrer Möglichkeiten, von Transzendenz zu reden, werden nach deutsch-westeuropäischer Rationalität kodifiziert, gelenkt und festgesetzt.

Zweitens, die Art und Weise gemeinsam zu singen, wird eingeübt und festgelegt und an die Worte der Missionar_innen gebunden. Die unterschiedlichen Möglichkeiten zu singen, abhängig von Training, Thorax, Lungenvolumen etc. werden jetzt in vier Stimmen, in ‚männlich‘ oder ‚weiblich‘ gezwängt. Was als ‚richtiges‘ Singen zählen darf, wird so eingeübt, dass Gottesdienst-Feiern und koloniale Pädagogik ineinander fallen. Zugleich wird festgelegt, mit welchen Klängen und Worten und nach welchen Noten und ‚Stimmen‘ man Gott anbeten darf.

3. Tonaufnahme des Kriegsgefangenen Gangaram Gurung

Das dritte Objekt ist unsichtbar. Es handelt sich um eine Schellack-Schallplattenaufnahme eines indischen  Kriegsgefangenen in Wünsdorf bei Berlin, die die Königlich-Preussische Phonographische Kommission am 31.5.1916 für die akademische Sprachforschung anfertigen ließ. Die Schallplatte ist im Besitz der Humboldt-Universität.

Die Aufnahme ist relevant für eine postkoloniale Perspektive auf Gottesdienst, weil Gangaram Gurung einen biblischen Text mit einem leichten britischen Akzent mit rauher und trauriger spricht: Die Geschichte vom verlorenen Sohn (LK 15). Seine Stimme kann man gleich zu Beginn der BBC Dokumentation „The Gostly Voices of World War I“ hören. Ein Kriegsgefangener, der aus Indien nach Deutschland gebracht wird, erzählt eine auswendig gelernte Geschichte vom verlorenen Sohn. Was diese Übertragungen und Deplatzierungen für den biblischen Text und seinen Sprecher bedeuten, könnte Bände füllen. Wichtig ist jedoch, dass für die wissenschaftliche Erfassung von Sprache, für die Grundsteine der modernen Sprachwissenschaften, solche auswendig gelernten biblischen Texte eingesetzt wurden. Eine spezifische Version von vielen möglichen, eine Übersetzung der Geschichte vom verlorenen Sohn aus der King James Bible wird zur Messlatte von Akzent, Prosodie, Intonation, Sprachstufe u.v.a.

Spannend für eine postkoloniale Sichtweise auf die Rolle der Bibel als etwas, das nicht nur für pädagogisch-koloniale Zwecke wiederholt wird, sind die kleinen Veränderungen, Einfügungen und Kommentare, der Rhythmus und Gangaram Gurungs eigener Singsang, die die Menschen in den Lagern der Kolonialmächte zu den Geschichten hinzufügen und die auch in der Tonsammlungen der Archive mehr und mehr in den Fokus kommen.

4. Figur eines Missionars, Westafrika (Kat.-Nr.1-11)

(Bild: GRASSI Museum für Völkerkunde zu Leipzig, Staatliche Kunstsammlungen Dresden)
(Bild: GRASSI Museum für Völkerkunde zu Leipzig, Staatliche Kunstsammlungen Dresden)

Eine ironische Aneignung der Regeln, sich als ‚guter Christenmensch‘ zu kleiden, zu bewegen, die Regeln des Redens und öffentlichen Auftreten, kurz der Habitus des viktorianischen Christentums, findet sich im letzten Objekt des kurzen Rundgangs.

Die Figur kann nicht datiert werden. Und auf eine ungewöhnliche Weise ist sie zeitlos. Sie ist zugleich eine Art des künstlerischen Nachäffens und Karikierens der Missionare. Die Figur sieht unsicher aus, aber auch streng. Die Kleidung wirkt unpraktisch. Ein bisschen Gender-Bending lässt sich vielleicht erkennen, denn für heutige Augen sieht der Missionar aus wie Marry Poppins. Die Hände sind nach westeuropäisch-christlicher Manier gefaltet und der Körper wirkt statisch. Und zugleich war diese Karikatur von einem Missionar eben auch ein Souvenir, das sich Westeuropäer kauften und in dem sie sich gespiegelt wieder mit nach Hause nehmen konnten.

In einem universellen System von Zeiten, in festgelegten Stimmen, Übersetzungen, Kleidungsstilen und Haltungen hat eine koloniale Denkart versucht die Sinneswahrnehmungen Eroberter zu trainieren, Selbstverständnisse, Konstruktionen von Gender, Weltsicht und Körpern für unterworfene Menschen festzulegen. Kolonisierte haben immer wieder in diese Prozesse eingegriffen, zum Offiziellen neues hinzugefügt, karikiert, dekonstruiert und rekonstruiert. Sie haben aus Positionen der Machtlosigkeit ihre eigenen Überlebensstrategien und Bedeutungen eingebracht und alte und neue Weisen Gottesdienst zu feiern und Gott zu verstehen verbunden – ein Aufstand von unterworfenem Wissen, der für die Zukunft des Gottesdienstes ein unerlässliches Korrektiv darstellt.

Konsequenzen für die Gottesdienstpraxis

Die Erforschung und die Praxis des Gottesdienstfeierns können von Spuren kolonialen Denkens und postkolonialer Aufstände lernen, die Lieder, Texte, Symbole und Bewegungen des Gottesdienstes auf alte und neue (neo-)koloniale Einflüsse zu untersuchen.

Das bedeutet:

  • Wahrzunehmen, dass die Heterogenität der Menschen, die am Gottesdienst teilnehmen, immer mehr zunimmt: Planende und Mitfeiernde nehmen am Gottesdienst auf ganz unterschiedlichen Ebenen teil, weil sie kulturell unterschiedlich geprägt wurden, kognitive und verbalsprachliche Inhalte unterschiedlich aufnehmen und in mehr als nur einer Sprache ‚denken‘.
  • Angesichts dieser neuen Diversität kritisch zu hinterfragen, welche Perspektive, Erfahrungen, Selbstverständnisse und Wissensbestände berücksichtigt werden und welche dafür ausgeschlossen und unterdrückt werden.
  • Zu identifizieren, was vom Gottesdienst als Zentrum der Welt verstanden und gemacht wird und was dabei unsichtbar gemacht und in eine Randstellung verschoben wird (Was ist z.B. eindeutig eurozentristisch, sexistisch oder expansionistisch an den Liedern, Texten und Ritualen?)
  • Zu verstehen, dass jedes erneute Feiern des Gottesdienstes sich öffnet für Überraschungen und Verschiebungen, Verunreinigungen jeder Tradition – und die vermeintliche Einheitlichkeit, Abgeschlossenheit und Sicherheit einer Gottesdienstgemeinschaft aufzugeben, wo weiße deutsche Bildungsbürger in nur einer Sprache und mit einer Stimme Gottesdienst feiert und dabei unter sich bleiben. Es hat sie nie gegeben.

Die Ausstellung „Deutscher Kolonialismus – Fragmente seiner Geschichte und Gegenwart“ im Deutschen Historischen Museum in Berlin kann noch bis zum 14. Mai 2017 besucht werden.

Der Katholik, der den Kirchenaustritt erleichtert

Vor Kurzem bin ich auf das Projekt „dein-kirchenaustritt.de“ gestoßen. „Kirchenaustritt leicht gemacht“ prangt da in großen Lettern auf der Startseite. Das Angebot will eine Lösung für all jene bieten, die aus der Kirche austreten wollen, aber vor dem Aufwand zurückschrecken: „Wir erleichtern Dir den Kirchenaustritt: Du erhältst auf Dich zugeschnittene Informationen zum Austritt“, heißt es auf der Webseite. Der Clou an der Sache: Die Austrittswilligen sollen ihre ersparte Kirchensteuer nicht einfach in die eigene Tasche stecken, sondern spenden – an Projekte, die der Gesellschaft nutzen. 

Stutzig wurde ich, als ich mir die Initiatoren genauer anschaute: Dominik Mauritz und Niels Reinhard. Während Mauritz konfessionslos ist, ist Reinhard noch Mitglied der römisch-katholischen Kirche. Nanu – ein Katholik, der einen Service anbietet, aus der Kirche auszutreten? Grund genug, ihm ein paar kurze Fragen zu stellen:

TheoPop: Wie sind Sie auf die Idee zu dem Projekt „dein-kirchenaustritt.de“ gekommen?
Niels Reinhard:
Ich bin selbst römisch-katholisch und sah bei meiner ersten Gehaltsabrechnung, dass die monatliche Kirchensteuer tatsächlich kein unbedeutender Betrag war. Gepaart mit regelmäßigen Berichten über die jährlich mehr als 450.000 Austritte pro Jahr habe ich mich immer mehr gefragt, ob diese Personen wohl anschließend in einem ähnlichen Umfang wie mit der Kirchensteuer vorher die soziale Infrastruktur unterstützen. Dominik und ich haben dann etwas mehr recherchiert und uns zur Gründung von dein-kirchenaustritt.de entschlossen.

Was ist Ihr Ziel?
Es ist leider die Realität in Deutschland, dass Hunderttausende Menschen jährlich aus der Kirche austreten. Wir wollen dazu beitragen, dass diese Austritte nicht dazu führen, dass die soziale Infrastruktur in Deutschland geschwächt wird. Wir wollen also niemanden zum Kirchenaustritt bewegen, sondern die Menschen ansprechen, die sich sowieso schon dazu entschieden haben, auszutreten.

Sie selbst sind noch Mitglied der römisch-katholischen Kirche. Was war für Sie als Christ Beweggrund, ein solches Projekt zu initiieren?
In meiner Heimatgemeinde habe ich selbst über die Jahre beobachten müssen, wie die Gottesdienste immer weniger besucht wurden. Kirchenaustritte sind leider die Realität. Da ich persönlich die Ausrichtung der Kirche also Organisation nicht beeinflussen kann, möchte ich trotzdem dazu beitragen, dass trotz der Kirchenaustritte Bedürftigen weiter geholfen wird. Hilfsorganisationen leisten hier einen wichtigen Beitrag – es ist uns ein besonderes Anliegen, diese zu unterstützen.

Stoßen Sie in eigenen Reihen auf Kritik?
Wir haben durchaus auch kritische Rückmeldungen bekommen. Kirche und Glaube sind ein emotionales Thema – und es ist gut, dass dies immer noch so ist. Vielleicht ist dies sogar ein positives Signal für die Kirchen. Da wir niemanden zum Kirchenaustritt motivieren, sondern lediglich die Auswirkungen der zahlreichen Kirchenaustritte schwächen wollen, kann ich die Kritik an unserem Modell jedoch nicht nachvollziehen.

Sind sie Kritiker des Kirchensteuer-Systems?
Ja. Ich fände es für die Institution Kirche als solche erfrischender, wenn die Beiträge nicht „im Hintergrund“ eingezogen würden, sondern wenn sich die Gläubigen aktiv dazu entscheiden, die vielen tollen Angebote zu unterstützen. Dies würde auch inner-kirchlich einen kontinuierlichen, notwendigen Rerformationsprozess anstoßen.

Ist dein-kirchenaustritt.de ein kommerzielles Projekt – und wenn ja, wie funktioniert die Monetarisierung?
Wir haben bisher mehr als 5000€ von jährlich wiederkehrenden Spenden für Hilfsorganisationen über unsere Plattform gewinnen können. Wir diskutieren aktuell verschiedene Modelle, wie wir das Angebot auf nachhaltige Beine stellen können. Da wir jedoch erst seit September online sind, gibt es noch keine konkrete Monetarisierung.

Vielen Dank für die Beantwortung meiner Fragen!

Ich bin etwas zurückhaltend, finde das Projekt aber tendenziell gut. Denn es lädt dazu ein, sich Gedanken zu machen: Was soll mit meinem Geld passieren? Skeptisch bin ich vor allem ob der Nachhaltigkeit: Ein Spenden-Dauerauftrag ist sehr unverbindlich und schnell gekündigt. 

Man kann sich vorstellen, dass die Kirchen ein solches Angebot freilich nicht so gerne sehen – denn jede Thematisierung und Öffentlichkeit führt vermeintlich zu neuen Austritten – insofern animiert es sicher den ein oder anderen, endlich klar Schiff zu machen (das muss ja nicht negativ sein). Fakt ist: Aus Sicht der Kirchen fehlt nun das Geld der Leute, die bisher zu faul waren, aus der Kirche auszutreten. Totschweigen funktioniert besser – noch zumindest.

Was haltet ihr von dem Projekt – ein sinnvoller und kreativer Umgang mit dem „Problem“ der steigenden Kirchenaustritte? Oder ist es eher kontraproduktiv?

Drei Gründe gegen den „Marsch für das Leben“

Am 17. September findet – wie jedes  Jahr um diese Zeit – in Berlin wieder der „Marsch für das Leben“ statt. Ein Schweigemarsch gegen Abtreibung, der das „Ja zum Leben“ verkünden will. Veranstaltet wird er vom „Bundesverband Lebensrecht e. V.“ (BvL), einem Zusammenschluss (christlicher) Lebensrechtsgruppen. Tausende Christen aus der gesamten Republik werden anreisen, um weiße Kreuze durch die Hauptstadt zu tragen. Zu erwarten ist auch wieder eine große mediale Wahrnehmung des Ereignisses: Gegendemonstranten haben angekündigt, den Schweigemarsch blockieren zu wollen.

Obwohl ich in Sachen Schwangerschaftsabbruch eine recht konservative Linie vertrete, habe ich – als Christ – große Probleme mit dieser Veranstaltung. Vor allem drei.

1. Das Vokabular

Bei dieser Veranstaltung laufen Leute mit, die von einem „Babycaust“ reden (wer das mal googelt, braucht starke Nerven und sollte vorher nichts gegessen haben). Zum einen ist das eine unsägliche Verharmlosung des Nationalsozialismus, die – vor allem – von Christen aus Deutschland vehement abgelehnt werden sollte. Selbst wenn ich die Grundanliegen des Marsches voll und ganz teilen würde (dazu mehr unter 3.), könnte ich es mit meinem Gewissen nicht rechtfertigen, neben solchen Leuten herzulaufen.

Und zum anderen hat dieses (und anderes) aggressive Vokabular gegen Abtreibung mindestes zwei weitere Folgen: 1) Frauen, die eine Abtreibung hinter sich haben, werden pauschal verurteilt. Ich weiß: In der Lebensrechtsbewegung würde man das anders sehen. Aber wo bleibt der Raum für seelsorgerliche Betreuung? Wie kann man ernsthaft erwarten, dass jemand, den man als „Mörderin“ oder als „Beteiligte an einem zweiten Holocaust“ bezeichnet, sich Begleitung ausgerechnet bei denen sucht, die sie (wenn auch selten direkt) so titulieren? Das ist bestenfalls schizophren.

Und 2): Ein solcher Sprech lässt keinen Raum für die Wirklichkeit. Die Wirklichkeit, die so unendlich viel komplexer ist, in der hinter jedem Schwangerschaftsabbruch eine (häufig tragische, immer sehr persönliche) Geschichte steht. Statt diese wahrzunehmen, sich in Beratung und Begleitung darauf einzustellen, ist das Vorzeichen schon gesetzt. Die verbale Verurteilung ist bereits geschehen, und es ist eine Pauschalverurteilung, die keinerlei Rücksicht auf die Realität nehmen kann, weil Realität niemals pauschal zu erfassen ist.

2. Die Nase(n)

Der Marsch für das Leben ist vor allem mit einer Person verknüpft: Martin Lohmann, Leitfigur Vorsitzender des BvL. Lohmann ist römisch-katholischer Publizist und vehementer Abtreibungsgegner. Und er ist Gegner der Pille danach, selbst im Falle einer Vergewaltigung. Doch damit nicht genug: Lohmann vertritt auch in einer anderen Hinsicht konservativ (angeblich) christliche Werte: Er lehnt Homosexualität und eine Gleichberechtigung homosexueller Menschen z. B. in Sachen Ehe oder Adoption ab. Aufgrund seiner Auftritte und Aussagen ist dies ebenso mit ihm verbunden wie die Ablehnung der Abtreibung.

Und ich vermute, dass eine Umfrage unter dem Demo-Teilnehmern ihm in dieser Hinsicht auch eine breite Mehrheit bescheren würde. Schaut man sich nämlich zum Beispiel noch an, wer zum BvL dazugehört, so steht da unter anderem das „Weiße Kreuz“. Dort hilft man – polemisch ausgedrückt – homosexuellen Menschen, damit klar zu kommen, das Gott sie so geschaffen hat, wie er sie nicht will.

Ich muss akzeptieren, dass es Christen gibt, die in manchen Themen anders denken als ich. Und kann damit umgehen, indem ich in Gesprächen wieder und wieder argumentiere, warum ich es anders sehe. Ich kann aber nicht auf einer Demo mitlaufen und sie auch nicht unterstützen, bei der (mutmaßlich) das Gros der Teilnehmer mit ihren Ansichten bei einem mir wichtigen Thema meinen Überzeugungen so diametral entgegen steht. (Übrigens ist das des Öfteren mein Problem mit Demonstrationen oder ähnlichen Veranstaltungen.)

3. Das Anliegen

Ich teile das Anliegen, für das Recht ungeborener Kinder einzutreten. Und ja, ich lehne Schwangerschaftsabbrüche grundsätzlich zunächst ab. Es gibt jedoch ein großes Aber: Ich halte es nicht für zielführend, meine Position mittels Verboten anderen aufzuzwingen, wie es die Veranstalter des Schweigemarsches fordern. Und ich erkenne an, dass es Situationen gibt, die sich nicht in ein Schwarz-Weiß-Schema pressen lassen. Situationen, in denen sich meine Position mit der Realität reibt, weil so viele Faktoren eine Rolle spielen, dass es nicht mit einem einfachen „Richtig“ oder „Falsch“ getan ist.

Deshalb unterstütze ich in dieser Hinsicht ganz die Linie der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz. (Es ist übrigens bezeichnend, dass im vergangenen Jahr nur von zwei evangelischen Landesbischöfen ein Grußwort beim Marsch des Lebens einging: Dr. Frank Otfried July, Bischof in Württemberg und Dr. Carsten Rentzing, Bischof in Sachsen. Die EKD hat immerhin 20 Gliedkirchen.) In Berlin-Brandenburg lehnt man den Marsch mit folgender Begründung ab: Man sei der Überzeugung, dass die Beratungen vor Schwangerschaftsabbrüchen  zwar mit dem Ziel geführt werden müssten, eine Abtreibung zu verhindern, letztlich aber „ergebnisoffen“ sein müssten. Und, ja! Nur so kann man der komplexen Realität gerecht werden: In dem man die einzelne Person ernst nimmt und sie in ihrer Situation begleitet. Der BvL lehnt eine solche Beratungsweise ab. Und hat sich damit entschieden, jede Lebenssituation in eine vorgefertigte Schablone pressen zu wollen. Seelsorge, die von christlicher Nächstenliebe geleitet sein will, sieht anders aus.

Wo der „Marsch für das Leben“ Verbote fordert, glaube ich, dass etwas anderes viel zielführender ist: Aufklärung. Wer sich wünscht, dass weniger abgetrieben wird, der muss keine Verbote fordern, sondern sich konsequent dafür einsetzen, dass ungewollte Schwangerschaften verhindert werden. Durch altersgerechten Sexualkundeunterricht, durch die Verfügbarkeit von Verhütungsmittel – und ja, auch durch die Pille danach, die Herr Lohmann so vehement (und in seinem Weltbild konsequent) verteufelt. Es ist auch nicht unbedingt förderlich, wenn das Thema Sex in konservativ-christlichen Kreisen nur dann vorkommt, wenn es um Homosexualität oder den ach-so-schlechten Sex außerhalb der vergötterten Ehe geht.

Im Übrigen: Ich habe auch Probleme mit so mancher Position der Gegendemonstranten. Sprüche wie „Hätt‘ Maria abgetrieben, wärt ihr uns erspart geblieben“ sind dumm, dienen allein der plumpen Provokation und verhärten die Fronten nur weiter. Und das Argument: „Mein Körper gehört mir“ oder „Mein Körper, meine Entscheidung“ konnte ich noch nie nachvollziehen – es ist aus meiner Sicht zutiefst egoistisch. Ja, dein Körper gehört dir. Aber erstens geht damit eine gewisse Verantwortung einher. (Paradoxerweise sind diese Parolengröler häufig jene, die auch Artikel 14 des Grundgesetzes so hoch hängen – „Eigentum verpflichtet“. Freilich tun sie das in einem völlig anderen Kontext. Aber die Idee, dass mit Eigentum eine Verantwortung einhergeht, bleibt: Zum Beispiel ein verantwortungsvoller Umgang mit Sexualität.) Und zweitens geht es insbesondere bei der Abtreibungsfrage eben nämlich nicht mehr nur um den eigenen Körper, sondern um mindestens einen weiteren. Punkt.

So, genug. Verzeiht mir den streckenweise etwas polemischen Ton, es regt mich halt auf.

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Nachtrag 15. September, 10:40 Uhr: Ich  verweise auf meinen sehr ausführlichen Kommentar (s.u., hier springen), der einige Vorwürfe gegen mich im Nachgang dieses Artikels aufgreift und meine Position – ganz unpolemisch – darlegt.

Theoradar: Zeig mir die Blogosphäre!

So – die Sommerpause ist vorbei. Ja, sie ist mit über zwei Monaten etwas länger ausgefallen. Aber was muss, das muss. Dafür gibt es phänomenale Neuigkeiten: Seit fast einem Jahr trage ich eine Idee mit mir herum,  die nun Gestalt angenommen hat und heute endlich in die erste Live-Version geht: theoradar.de.

Was ist Theoradar?

Die Idee hinter hinter dem Projekt ist, einen einfachen Zugang zu den Themen zu schaffen, die aktuell auf christlichen Blogs diskutiert werden. Als Inspiration diente mir dabei das Social-Media-Newsranking 10000flies.de. So etwas, dachte ich, sollte es auch für christliche Blogs geben! Und schon war der Programmierer-Ehrgeiz geweckt.

Herausgekommen ist „Theoradar“: Eine Liste der Beiträge aus der christlichen Blogosphäre, die am meisten Resonanz in sozialen Netzwerken (Twitter, Facebook, Google+) finden: Likes, Retweets, Kommentare, +1’s. All das wird zu einem Ranking-Wert zusammengerechnet, auf dessen Basis die Topliste entsteht – immer aktuell, die Zahlen werden mindestens alle zwei Stunden aktualisiert.

Es soll dabei nicht um einen Wettbewerb gehen, sondern um ein Spiegelbild dessen, was gerade heiß diskutiert wird, besonders aufregt oder einfach begeistert. Details und weitere Informationen zur Funktionsweise von Theoradar gibt’s direkt beim Projekt auf der Webseite: http://theoradar.de/about.

Parallel zu Theoradar wird es dort auch ein neues Blog geben: blog.theoradar.de. Dort werden nicht nur neue Features der Web-Applikation verkündet (es gibt noch viele Ideen), sondern auch einmal im Monat die am meisten diskutierten Beiträge der christlichen Blogosphäre vorgestellt. Und: Ab und an wird es dort Beiträge mit Tipps & Tricks rund ums Bloggen an sich geben. Natürlich freue ich mich über eure Gedanken und euer Feedback zu dem Projekt „Theoradar“ – entweder hier, oder, noch besser, dort auf dem Theoradar-Blog.

In diesem Sinne: Auf in den Spätsommer! Hier geht es in der kommenden Woche wie gewohnt inhaltlich weiter. Mir liegt schon was auf der Zunge.

Fußball – die Wurzel allen Übels!

Gerade ist Fußball-EM. Die perfekte Gelegenheit, auszusprechen, was schon längst hätte ausgesprochen werden sollen: Ohne Fußball wäre die Welt eine bessere. Man muss sich nur einmal die Fans dieses Sports anschauen: Das sind brutale Schläger, Hooligans, die nicht davor zurückscheuen, sich gegenseitig ins Krankenhaus zu prügeln. Fußball, nein, mit den Grundwerten unserer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft ist so eine gewaltfördernder Sport nicht vereinbar. Blutgrätsche, Notbremsen, Knochenbrüche – was auf dem Rasen beginnt, wird abseits des Grüns fortgesetzt.

Die Hooligan-Gewalt hat mit Fußball nichts zu tun? Quatsch. Es braucht jemanden, der diese Wahrheit endlich ausspricht, ohne dafür gleich als fußballophob bezeichnet zu werden. Schließlich tragen Hooligans Fußball-Trikots, haben Tickets für Fußball-Spiele und prügeln sich in Fußball-Stadien. Und sie prügeln vor dem Stadion auf Fans gegnerischer Mannschaften ein. Gäbe es keine Fußball-Stadien, keine Fußball-Vereine, ergo keine Fans, gäbe es keine Hooligans. So einfach ist das. Wir sollten Fußballstadien verbieten, das Tragen von Vereinssymbolik in der Öffentlichkeit (insbesondere in den Schulen) und – natürlich! – die Vollverschleierung besoffener Fußballfans. Wir sollten zudem die Gelegenheit nutzen und die Grenzen jetzt sofort dicht machen, damit alle Fußballfans, die gerade ausgereist sind, auch draußen bleiben.

Es geht noch weiter: Der Fußball unterdrückt Frauen. In unserer abendländisch-christlichen Kultur ist die Emanzipation der Frau ein hohes Gut, das verteidigt werden muss. Fußball steht dieser Entwicklung diametral entgegen, hier werden Frauen als minderwertig betrachtet. Oder gibt es etwa eine einzige Trainerin bei der Europameisterschaft?  Nein. Nur auf der Tribüne, fein, da erfüllen Sie ihre Rolle als Spielerfrau perfekt. Es ist sogar so weit gekommen, dass, wenn sich eine Frau erdreistet, ein Fußballspiel auch nur zu kommentieren, sie sich mit dem geballten Hass leidenschaftlicher Fußballfans konfrontiert sieht. Der Fußball propagiert ein Frauenbild aus dem vorherigen Jahrhundert.

Fußball und Vernunft sind nicht vereinbar

Und da sind die Sportfunktionäre noch gar nicht angesprochen. Korrupt bis in den Wurmfortsatz. Wer behauptet, denen ginge es nicht nur ums Geld, sondern auch um Toleranz, Miteinander oder gar den Sport an sich, steht doch beim DFB, der Uefa oder gar der Fifa höchstselbst auf der (schwarzen) Gehaltsliste.

Aus all diesen Dingen folgt: Fußball ist eine Beleidigung für den aufgeklärten Verstand. Fußball und Vernunft, das geht nicht zusammen. Wer daran glaubt, dass zweiundzwanzig Leute, die einem Ball hinterherhecheln, um ihn in einen Kasten zu befördern, ein Millionengehalt verdient haben, der hat nicht mehr alle Knoten im Netz. Nicht nur während der Europameisterschaft verbreitet sich dieser Irrglaube wie ein gefährlicher Virus in den Köpfen der Menschen. Schon kleinen Kindern wird diese Idee von ihren fußballverrückten Vätern beigebracht, ohne dass sie eine Wahl hätten, sich dem zu entziehen. Das Mindesteintrittsalter für Fußballvereine sollte bei 16 liegen, die Bambinis gehören ersatzlos abgeschafft.

Was also bringt der Fußball Gutes? Die Antwort ist so einfach wie ernüchternd: nichts. Er vernichtet Geld (auch Unsummen von Steuergeldern – ich zahle mit meinen Steuergeldern für dieses gefährliche Hobby anderer!). Er bereichert einige wenige Menschen, fördert Gewalt, unterdrückt Frauen und ist mit einer aufgeklärt-wissenschaftlichen Weltsicht unvereinbar. Fakt ist: Ohne Islam Religion Fußball wäre die Welt eine bessere. Punkt.

Theopop in Feierlaune

Es gibt etwas zu feiern: Theopop hat Geburtstag! Heute vor genau vier Jahren ist der erste inhaltliche Beitrag auf Theopop erschienen – es ging um das Vaterunser“ in einem Champions-League-Werbespot (Ganz nebenbei: Mit über 13.000 Zugriffen einer der meistgelesenen Artikel auf dem Blog). Auch damals hatten wir (noch mit einem Autorenteam der Uni Tübingen) die Fußball-Europameisterschaft im Blick, die ja für Deutschland leider jäh im Halbfinale endete.

Seit dem 9. Juni 2012 erscheinen hier regelmäßig Beiträge zu einem bunten popkulturell-religiös-medialen Spektrum. Und wenn auch die Abstände mal größer und mal kleiner waren und das Autoren zu einem Ein-Mann-Team geschrumpft ist, so gab es seit der Entstehung noch keine allzu lange Pause, die den Rahmen des Ertragbaren gesprengt hätte (eine Richtschnur für die Aktivität von Blogs ist ja die Drei-Monats-Marke. Die wurde immer deutlich unterschritten ;-)). Das ist vor allem einer Tatsache zu verdanken: Dem stetig anhaltenden und wachsenden Interesse der Leserinnen und Leser dieses Blogs. Schreiben macht zwar auch an sich Spaß – am Ball bleibt man jedoch als Blogger besonders dann gerne, wenn man merkt, dass es auch angenommen wird. Das sind übrigens die fünf bestgelesenen Artikel der vergangenen vier Jahre:

  1. Kreuzberg und das Weihnachtsverbot (16.000 +)
  2. Religiöse Motive in der Werbung  (13.000+)
  3. Hilfe, mir wird der Spaß untersagt! Anmerkungen zum „Tanzverbot“ (10.000+)
  4. ProChrist wirbt für’s Beten (8.000+)
  5. Religiot ist, wer trotzdem lacht (7.000+)

Drei kleine Dankeschöns

Dieser Geburtstag ist ein dickes „Dankeschön!“ an alle, die Theopop in den vergangenen Jahren gelesen, kommentiert und verbreitet haben. Und, wie sich das gehört, gibt es auch Geschenke. Die werde ich im Rahmen einer kleinen Verlosung unter Euch schleudern. Die Gewinne sind:

Gewinnen ist ganz einfach: Ohne viel Schnickschnack dürft ihr einfach einen Kommentar unter diesem Blogbeitrag hinterlassen (gerne auch unter Pseudonym – nur die E-Mail-Adresse sollte nicht ins Leere führen, damit ich euch im Gewinnfall benachrichtigen kann). Der Inhalt des Kommentars ist egal. Freuen würde es mich, wenn ihr ehrlich schreibt, was ihr an Theopop besonders gut/schlecht findet. Wäre toll, wenn das Ganze so zu einer Feedback-Runde für die Zukunft würde. Explizit sage ich aber: Für’s Gewinnspiel ist das keine Voraussetzung, da reicht ein einfacher Kommentar.

Deadline ist das Ende der EM-Vorrunde für das deutsche Team: Dienstag, der 22. Juni 2016, 24 Uhr. Wer bis dahin kommentiert, nimmt teil. Die Auslosung (alle in einen Topf, die drei Preise werden dann verlost) und Versendung der Gewinne erfolgt dann noch vor dem Achtelfinale.

In diesem Sinne: Vielen, vielen Dank an alle BlogleserInnen, auf viele tolle weitere Jahre – und viel Glück beim Gewinnspiel!

PS: Wer noch Texte zur theologischen Einstimmung auf die EM sucht – mit dem Thema hat sich Theopop schon häufiger beschäftigt. Et voilà:

UPDATE 25.06:

So, die Gewinner stehen fest: Herzlichen Glückwunsch an Tobias (Buch), Anne („Heiliger-Rasen“) und jthot („Heiliger Rasen“). Die Gewinner wurden benachrichtigt. Danke für’s mitmachen!

Warum der Islam zu Deutschland gehört

Die Debatte darum, ob „der Islam“ zu Deutschland gehört, hat eigentlich nie wirklich aufgehört, seit Christian Wulff diesen Satz (zwar vielleicht nicht als erster, aber mit Sicherheit mit der meisten medialen Wirkung) ausgesprochen hat. In immer wieder neuen Auswüchsen wird – vor allem auch in konservativ-christlichen Kreisen – zu Betonen versucht, dass dem nicht so sei: Der Islam habe hier keine Tradition, wir seien schließlich das christliche Abendland, und, freilich, Muslime gehören zu Deutschland, nicht aber der Islam. Die AfD trägt das Ihre dazu bei, dass das Thema auch schön am Brodeln gehalten wird.

Vor allem die letzte Aussage stößt mir dabei immer sauer auf: Muslime ja – Islam, nein. Besonders bei christlich geprägten Politikern. Da soll dann offenbar noch der Eindruck erweckt werden: Wir Christen lieben ja unseren Nächsten (die Muslime), aber ihre Religion muss man doch getrennt davon betrachten, das gehört nicht dazu.

Wenn wir nur einen Augenblick innehalten und uns überlegen, wieso das alles überhaupt ein solches Konfliktpotenzial hat, erkennen wir auch, wie unsinnig eine solche Unterscheidung ist. Das Thema Religion ist doch genau deshalb ein Minenfeld, weil sie untrennbar mit der Identität eines Menschen verwoben ist. Religion – oder für diejenigen, die den Begriff nicht mögen: Weltanschauung – ist kein Hobby, das ich zwei Mal in der Woche am Abend im Sportverein oder Sonntagmorgens im Gottesdienst ausübe. Diese Art, die Welt zu sehen, gehört zu mir, ich identifiziere mich damit. Sie ist gewachsen aus Überzeugungen, die ich im Laufe der Jahre erlangt oder auch wieder abgelegt habe. Sie prägt meinen Umgang mit Mitmenschen, meine Entscheidungen, mein Handeln.

Religion = privat? So einfach ist das nicht

Deshalb sind Forderungen wie „Religion gehört nicht in die Öffentlichkeit, sie muss privat bleiben“ ebenso hanebüchen. Denn da liegt ein grobes Missverständnis vor. Ich kann doch nicht plötzlich als ungläubiger Mensch agieren oder Entscheidungen treffen, nur weil ich mein Haus verlasse. Nein – wer Religionsfreiheit fordert, der muss auch zulassen, dass Christen Christen sein dürfen, Muslime Muslime und Atheisten Atheisten. Und das heißt: Nicht nur in den eigenen vier Wänden, sondern als Menschen in allen Lebensbereichen. Alles andere hieße, den Menschen einem Teil seiner Identität zu berauben.

Und genau das passiert, wenn man behauptet: „Muslime gehören zu Deutschland, aber der Islam nicht.“ Ganz abgesehen davon, dass es „den Islam“ ebenso wenig wie „das Christentum“ oder „den Hinduismus“ gibt. Und dass man durchaus argumentieren könnte, dass der Islam in der Tat große Einflüsse auf unsere europäische Kultur und unser Denken hatte.

Wenn wir also gegen Parolen der AfD und ihrer Mitstreiter ankommen wollen, so sollten wir das nicht mit Parolen tun, die zwar freundlicher und differenzierter klingen, es aber nicht sind. Der Islam gehört zu Deutschland, weil Muslime zu Deutschland gehören – so wie das Christentum zu Deutschland gehört, weil Christen zu Deutschland gehören. Wenn wir das begreifen, können wir (wie das auch bereits getan wird) gemeinsam mit Muslimen gegen das wirkliche Problem kämpfen: Radikalisierung, Fundamentalismus, Fanatismus. Und zwar völlig egal ob im muslimischen, christlichen oder politischen Bereich.

Auf zu Deutschlands Hexen!

Joseph Mumpert ist Raelist. Er glaubt, dass die Menschen von Elohim – das sind Aliens – geschaffen wurde, und zwar in Klonlaboren in der Gegend von Jerusalem. Raelisten sind davon überzeugt, dass die Elohim heute auf einem fernen Planeten leben. Offenbart hätten sie sich unter anderem dem Propheten Rael – daher auch der Name de Glaubensgemeinschaft.

Joseph Mumpert ist eine von vielen Personen, die Gideon Böss in seinem neuen Buch „Deutschland, deine Götter“ besucht. Wicca-Hexen, Mandäer, Bahai, Heiden – die religiöse Landkarte in unserem Land geht ist weitaus vielfältiger als „evangelisch“ und „katholisch“. Ein Jahr lang hat Böss sich auf den Weg durch die Republik gemacht um herauszufinden, ob da auch was für ihn dabei ist. Herausgekommen ist ein sehr amüsanter Überblick über insgesamt 26 Glaubensgemeinschaften von der Nordsee bis zu den Alpen.

Besuch beim intoleranten „Kalif Spaghetti“

"Deutschland, deine Götter" ist im März 2016  im Klett-Cotta Verlag erschienen. ISBN:   978-3-608-50230-5, 19,99 €
 „Deutschland, deine Götter“ ist im März 2016 im Klett-Cotta Verlag erschienen. ISBN: 978-3-608-50230-5, 19,99 €.

Egal ob Piusbruder, Sunnit oder Mitglied einer Osho-Kommune: Keiner der Gesprächspartner des Autors ist vor seinen direkten, teilweise (gewollt) naiven Fragen gefeit. Denn der will natürlich wissen, was ihm die jeweilige Religion zu bieten hat: Leben nach dem Tod? Einstellung zu Homosexualität? Verhältnis zur Gewalt? Böss schafft es tatsächlich, unvoreingenommen mit den Menschen ins Gespräch zu kommen. Ihm geht es nicht darum, sich über bestimmte Glaubensvorstellungen lustig zu machen, sondern darum, sie kennenzulernen.

Und so ist es auch ausgerechnet die „Kirche des Fliegenden Spaghettimonsters“, von der er sich am meisten enttäuscht zeigt. Er weiß zwar um den satirischen Charakter der Gemeinschaft – ist jedoch schwer enttäuscht davon, dass „Bruder Spaghettus“ sich bei seinem Treffen keinerlei Mühe macht, seine Fassade aufrechtzuerhalten, sondern direkt in Religionskritik übergeht:

Ich kam hierher, um zu sehen, wie weit Bruder Spaghettus wohl das Spiel mitspielt, sich über theologische Fragen zu streiten. Er spielt es gar nicht. Er ist ein normaler Religionskritiker mit Schwäche für Piratenkostüme.

Nachdem er mit der Frage „Kann ich zugleich katholisch und Mitglied in eurem Verein sein?“ Bruder Spaghetttus eigene Intoleranz („Dann hast du kein rationales Weltbild. […] Wir würden so jemanden nicht aufnehmen. […] Religionen sind ein Grundübel.“) entlarvt, zieht er sein Fazit:

Hier sitzt der unnachgiebige Kalif Spaghetti, der keine Abweichung von der reinen gottlosen Lehre duldet. […] Diese Satirereligion hat mit Satire eigentlich nichts zu tun. Satire darf sich nicht selbst entlarven. Sie muss sich ernst nehmen, sonst ist sie keine Satire, sondern nur ein infantiler Witz. Wenn dieser Anspruch aufgegeben wird, bleibt nicht mehr als eine normale Religionskritik mit albernen Kostümen übrig. Schade eigentlich.

Kurzweilig, respektvoll, amüsant

Kurz und gut: Es macht Spaß, dieses Buch zu lesen. Der angenehme Schreibstil und trockene Humor macht „Deutschland, deine Götter“ trotz seiner 398 Seiten zu einer kurzweiligen Lektüre, die man nicht aus der Hand legen möchte – ein gelungenes Sachbuch im Reportage-Stil. Die gute Vorbereitung des Autors sorgt dafür, dass man über die Glaubensgemeinschaften viel erfährt, weit über das hinaus, was die jeweiligen Gesprächspartner direkt erzählen.

Besonders angenehm ist die unpolemische Art, mit der Böss diesen „ungewöhnlichen Deutschlandführer“ (so steht es auf der Buchrückseite) verfasst hat. Bei aller Absurdität diverser Glaubenssätze, die er auch aufzeigt oder entlarvt, begegnet er seinen Gesprächspartnern ernsthaft und respektvoll. Es geht ihm niemals darum, andere lächerlich zu machen – obwohl das manchmal nahe läge. Hut ab!

Was will er denn nun?

Wollte man etwas Kritisches finden, so sind es vielleicht zwei Dinge: Zum einen wird nicht so ganz klar, was eine Religion tun müsste, um „zum Autor zu passen“. Ist sie streng und/oder  fundamentalistisch, passt es ihm nicht. Ist sie hingegen liberal bzw. interpretiert z. B. die Bibel historisch-kritisch, so wirft er ihnen Gleichgültigkeit vor. So ganz schlau wird man daraus nicht. Vielleicht aber weiß Böss das selbst nicht so genau – das zumindest könnte man aus seinem agnostischen Fazit schließen.

Zum anderen scheint Böss mitunter davon auszugehen, Religionen hätten auf alle existenziellen Fragen passende Antworten parat. Das dem nicht so ist, wir in dem Buch immer wieder deutlich. Vielmehr zeigt sich in den Gesprächen: Wer einer Religion anhängt, hat deswegen nicht „die Weisheit mit Löffeln gefressen“, sondern ringt weiterhin mit diesen Fragen – aber aus einer spezifischen Perspektive. Der eigentlich sympathische Zug – dass Religion und Theologie nämlich prozesshaft zu charakterisieren sind und nicht unbedingt ein dogmatisch festgefahrenes System darstellen – kann somit in dem Buch leider nicht zum Tragen kommen, weil der Autor darauf nicht wirklich eingeht.

Nichtsdestotrotz: Das Lesevergnügen wird dadurch nicht geschmälert, denn das stützt sich nicht auf den Ansichten des Autors. Wer mehr über die (teilweise verborgene) religiöse Landschaft in Deutschland erfahren möchte, macht mit „Deutschland, deine Götter“ ganz sicher keinen Fehler.

Danke, Kirche des fliegenden Spaghettimonsters!

(Bild Kate Sherrill/flickr.com unter cc-by-sa)
(Bild Kate Sherrill/flickr.com unter cc-by-sa)

Die „Kirche des fliegenden Spaghettimonsters“ (FSM) muss eine juristische Niederlage einstecken: Ein Gericht untersagt der Satire-Religion, am Ortseingang zum brandenburgischen Templin Hinweisschilder für ihre „Nudelmesse“ anzubringen. (Freitag, 10 Uhr. Würde mich wundern, wenn die besser besucht wäre als ein christlicher Gottesdienst – muss der Normalbürger da nicht arbeiten?) Die „Pastafarianer“ wollten in dieser Hinsicht eine Gleichberechtigung mit ortsansässigen Glaubensgemeinschaften erstreiten, denen es erlaubt ist, entsprechende Schilder anzubringen. Die Niederlage kommt auch für die FSM nicht überraschend – der Vorsitzende kündigte bereits an, vor die nächsthöhere juristische Instanz  zu ziehen. Die letzte Nudel ist noch nicht gegessen, sozusagen.

Im Hintergrund steht vordergründig (hehe, Wortspiel!) die Frage, ob die selbsternannte Kirche tatsächlich eine Glaubensgemeinschaft ist – wäre dies der Fall und würde ein deutsches Gericht so entscheiden, gingen die Argumente gegen eine Platzierung eines Hinweisschildes auf die Nudelmesse aus (s.u.). Eigentlich aber zeigt die öffentlichkeitswirksame Aktion der Pastafarianer mit dem Finger jedoch auf etwas ganz anderes: Mit welchem Recht werden überhaupt Hinweisschilder auf die Veranstaltungen von Glaubensgemeinschaften an Ortseingängen aufgestellt?

Die Schilder auf einen Erlass des Bundesverkehrsministeriums aus dem Jahr 1960 zurück. Die Überlegung war, so formuliert es zumindest die „Aachener Zeitung“ in einem älteren Artikel:  Wer mit dem Auto an einen fremden Ort kommt, soll sofort sehen, wann dort eine Messe oder ein evangelischer Gottesdienst gefeiert wird. Im August 2008 wurde die Erlaubnis für das Aufstellen entsprechender Schilder allen Glaubensgemeinschaften ausgeweitet (im Original hier). Bis dahin war dies nur der evangelischen und katholischen Kirche möglich. Die Kosten für die Unterhaltung müssen von der Vereinigung selbst getragen werden; bis 2008 aufgestellte Schilder genießen Bestandsschutz.

Diese Schilder sind überflüssig!

Die Aktion der „Kirche des fliegenden Spaghettimonsters“ finde ich zugegebenermaßen gelungen. Sie stellt nämlich die Frage danach, warum es überhaupt einen solchen Erlass braucht. Vermutlich stört sich kaum einer an den Schildern, die häufig hinter dem Ortseingangsschild zu sehen sind. Ich auch nicht. Aber ich halte sie dennoch für überflüssig.

Erstens, weil es nicht plausibel erklärbar ist, warum diese Schilder nur an den (Bundes-)Straßen stehen dürfen. Warum werden entsprechende Schilder nicht auch an/vor Bahnhöfen aufgestellt? Schließlich kommen viele Besucher einer Stadt auch dort an. Zweitens, weil das Geld besser investiert werden könnte. Ganz unabhängig davon, wer es bezahlt, ob Staat oder Glaubensgemeinschaft – mir fallen Tausende sinnvollere Dinge ein, die man mit dem Geld tun könnte. (Auch wenn ich vermute, dass die Instandhaltung nicht besonders kostspielig ist. Das Aufstellen schon eher…)

Drittens, weil ich mich frage: Wer braucht diese Schilder denn ernsthaft? Zumal sich Gottesdienst- oder Zeiten anderer Veranstaltungen ändern können, und die Schilder dann mehr Verwirrung als sonstwas stiften. Ich glaube: Wer als Anhänger einer Religionsgemeinschaft zu Gast in einer Stadt ist, der informiert sich doch (sollte es ihm wichtig sein) über andere Wege darüber, was angeboten wird. Stichwort Internet. Oder Spaziergang (von mir aus auch Autofahrt) vorbei an der entsprechenden Lokalität. Dann hat man auch mal gesehen, wo das überhaupt ist, denn Ortsangaben stehen ja auf den Schildern sowieso nicht drauf.

Sollte man der „Kirche des fliegenden Spaghettimonsters“ also erlauben, ihr Schild bei denen der (anderen) Kirchen anzubringen? Nein. Man sollte sie allesamt abschaffen. Ernsthaft: Danke für den Impuls, liebe Pastafarianer!

Off-Topic-P.S.: Dass auch eine Satire-Religion den Humor verlieren kann, hatten wir auf Theopop schonmal.

Pastoren-Rap: „Jesus, my N*gga !?“

Was habe ich mir da nur eingebrockt! Via Twitter wagte es Bloggerkollege Max Melzer, mir das folgende Video zu schicken und ich habe mehr oder weniger zugesagt, dazu zu bloggen. Also – los geht’s! Pflichtprogramm: das Video anschauen.

Kurz zusammengefasst: In dem Video rappen ein Pastor (und kurz auch seine Frau) über Jesus, der ihr „Nigga“ ist (vgl. dazu hier). Die Botschaft soll, so scheint es, Jugendliche erreichen, deren Sprache & (Sub-)Kultur nun einmal zu einem großen Teil die des HipHop sei – rappt der Pastor im Text. Eine kurze Recherche ergibt: Einiges spricht dafür, dass das Ganze ein Fake ist. Es gibt ein paar Unstimmigkeiten, letztlich gilt aber: Man weiß nicht, woher das Video kommt.

Damit das aber kein so langweiliger Blogbeitrag wird, setze ich mal voraus, dass das Video echt ist (sonst wäre hier jetzt Schluss). Und ich vertrete zudem nicht die naheliegende These, dass das Alles von einem echten Pastor eine peinliche Aktion wäre. Nein, ich behaupte: Das Video ist großartig! Disclaimer: Es geht mir allein um die Form, die ich toll finde, nicht um das, was gesagt wird.

My Rhymes are flat, my beats are sick…

Das Video ist urkomisch (ob echt oder nicht): Da steht ein steifer, älterer Mann in einem Anzug vor einer Leinwand. Er beginnt zu rappen (man beachte auch den anderen Herrn, der immer mal wieder im Hintergrund auftaucht). Das Vorzeichen, unter dem das Video steht, liefert der Rapper gleich mit:

So I gave my sermon an urban kick, my rhymes are flat, my beats are sick. My groove is big and it keeps getting bigger – that’s ‚cause Jesus Christ is my nigga.

Man kann gar nicht verpassen, wie gewollt lächerlich dieses Video ist. Es ist keine Produktion, die ernsthaft versucht, mittels eines christlichen Raps an die Lebenswelt Jugendlicher anzuknüpfen. Es ist himmelschreiend offensichtlich, wie sich die Protagonisten hier selbst auf den Arm nehmen, sich der Diskrepanzen ihrer Inszenierung bewusst sind, mit ihnen spielen und sie vollends ins Absurde überziehen.

Und genau so schafft es das Video, nicht peinlich zu sein – auch für den Fall, dass es tatsächlich ein echter Pastor ist. Peinlich wäre es, wenn all dies ein ernsthafter Versuch wäre, einen Rap mit christlichem Inhalt aufzusetzen. Peinlich wäre es, unfreiwillig komisch zu sein. Dafür gibt es auch im christlichen Bereich unzählige Beispiele, ein paar davon habe ich bereits vor einigen Monaten im Blog zusammengetragen.

Peinlich ist nicht immer peinlich

Das obige Video halte ich im Echtheitsfall für eine gelungene Art, sich selbst auf die Schippe zu nehmen. Es wird geradezu explizit formuliert, ob durch Text oder Inszenierung, dass dies auch die Intention ist: Der Zuschauer soll zum Lachen gebracht werden.

Und genau dadurch kann erreicht werden, was viele andere ernsthaft versuchen: Leute tatsächlich neugierig zu machen auf das, was man zu sagen hat. Ich habe bereits gesagt, dass ich die Ansichten, die in dem Video vermittelt werden, zum Großteil ablehne. Aber ich komme nicht umhin, den Typen sympathisch zu finden.

Wollte ich also ein Fazit aus diesem Video formulieren, so wäre es dieses: Mehr Mut, sich selbst nicht allzu ernst zu nehmen. Mehr Mut zur gewollten Peinlichkeit, die nur dann peinlich ist, wenn sie einem selbst peinlich ist. Und da ich zufälligerweise gerade ein Gespräch mit Tobias Sauer von dreifachglauben.de über das Thema hatte, komme ich nicht umhin, (mich selbst) zu fragen: Vielleicht gilt das in besonderem Maße auch für die Art und Weise, wie wir unseren Glauben kommunizieren?