Einmal im Jahr veröffentlicht die christliche Hilfsorganisation „Open Doors“ ihren Weltverfolgungsindex. Der will aufzeigen, wie viele Christen weltweit verfolgt werden. Nun ist der aktuelle Report für das Jahr 2017 erschienen. Und der tritt mit einem Paukenschlag auf. War bislang immer die Rede von rund 100 Millionen verfolgten Christen, heißt es im diesjährigen Bericht: „Die Zahl der Christen, die einem hohen Maß an Verfolgung ausgesetzt sind, liegt weltweit bei über 200 Millionen.“ Aufgehorcht: Eine Verdopplung – innerhalb eines Jahres?

Die Zahl dürfte für ordentlich Diskussionsstoff sorgen, zumal sich die Großkirchen und andere evangelische Hilfswerke bereits zu der in der Vergangenheit genannten Zahl kritisch geäußert haben. Und diese Kritik ist auch diesmal angebracht. Wer sich den Bericht anschaut, wird feststellen: Open Doors versäumt es, stichhaltige und transparente Begründungen darzulegen, warum nun plötzlich die Zahl verfolgter Christen so sprunghaft ansteigt. Da ist nur die Rede von „politischen Entwicklungen“, dem „Erstarken islamistischer Organisationen“ und ein „deutlich wachsender religiöser Nationalismus in den hinduistischen, buddhistischen und islamischen Ländern Asiens“.

Entwicklungen, die alle erst im vergangenen Jahr stattgefunden haben? Wohl kaum. Es verwundert doch etwas, dass vor neun Jahren die Zahl auf rund 100 Millionen festgelegt wurde und nun einfach mal so hopplahopp verdoppelt wird. Das wirkt, vorsichtig formuliert, nicht besonders seriös. Es ist völlig schleierhaft, wie Open Doors auf diese Zahlen kommt, und in dem Bericht wird das auch nicht detailliert erläutert. Das irritiert nicht nur mich, sondern offenbar auch den Generalsekretär des evangelischen Gustav-Adolf-Werks, Enno Haaks, der dem epd gegenüber sagt, er habe die neuen Zahlen „mit Verwunderung zur Kenntnis genommen“. Und weiter: „Mir ist nicht klar, wie die Zahlen zusammenkommen.“ Die Kritik an den Open-Doors-Zahlen ist nicht neu, aber sollte angesichts der angeblichen Verdopplung der weltweit verfolgten Christen erneut betont werden.

Die am meisten verfolgte Glaubensgruppe?

Aber gut. Das ist nicht das einzige Problem, das „Open Doors“ mit seinem Weltverfolgungsindex hat. Beharrlich spricht die Organisation von Christen als der „am stärksten verfolgten Glaubensgruppe weltweit“. Woher man diese Erkenntnis nimmt, ist schleierhaft – schließlich erhebt die Organisation ausschließlich die Situation von Christen. Zum einen fehlen also Vergleichspunkte, zum anderen können kleinere Religionsgemeinschaften wie zum Beispiel Bahai oder Jesiden niemals auf solche Zahlen kommen, schlicht, weil sie weniger Anhänger haben. Werden sie also nur deswegen nicht so stark verfolgt, weil sie weniger sind? Absurd.

Kritisiert werden muss auch der weite Begriff von „Verfolgung“, den Open Doors für seine Erhebung anwendet:

Die WVI-Methodik folgt eher einer theologischen als einer soziologischen oder juristischen Definition. Nach diesem Ansatz ist Verfolgung definiert als „jegliche Art von erlebter Anfeindung aufgrund der Identifikation einer Person mit Christus. Dies kann feindselige Haltungen, Worte und Handlungen gegenüber Christen umfassen.“ WVI 2017- Bericht, S. 306

Erlebte Anfeindung? Feindselige Worte? Freilich, schön ist das nicht. Aber daraus gleich „Verfolgung“ zu machen, ist zumindest bedenklich und deckt sich auch nicht mit Definitionen, die etwa von der EU verwendet werden. Nach diesem Verständnis werden auch in Deutschland Hunderttausende Muslime aufgrund ihres Glaubens „verfolgt“. Ob die Organisation dem auch zustimmen würde? Oder ich werde verfolgt, wenn ich mich als Darts-Fan oute und dafür spöttische Kommentare hinnehmen muss. (Oh, ja, schießt los!) Will sagen: Der Open-Doors Begriff ist so subjektiv geprägt und damit beliebig, dass es für eine vernünftige Erhebung nicht taugt.

In diesem Zusammenhang ist es auch mehr als irritierend, wenn, wie GAW-Generalsekretär Haaks ganz richtig feststellt, Länder wie Mexiko und Kolumbien auf dem Index auftauchen (Platz 41 und Platz 50). Mexiko ist ein katholisches Land  mit 83 Prozent Katholiken, 8 Prozent Protestanten – damit gehören formal mehr als 90 Prozent der Bevölkerung einer christlichen Kirche an. Noch deutlicher ist die Lage in Kolumbien, dort gehören bis auf wenige Prozent alle einer christlichen Kirche an. Christenverfolgung? Hier muss doch ernsthaft hinterfragt werden, ob hier Christen tatsächlich wegen ihres Glaubens verfolgt werden, oder nicht vielmehr unter den kriminellen Strukturen in diesen Ländern leiden.

Ein Fazit in drei Punkten

  1. Ich betone: Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass Christen in vielen Ländern aufgrund ihres Glaubens verfolgt werden. Auch und gerade, wenn diese Zahl steigt. Open Doors schafft dafür eine Öffentlichkeit. Leider vertut das Hilfswerk die Chance, dabei seriös zu bleiben. Die Zahlen, die Open Doors nennt, sind alles andere als seriös, weil sie nicht nachvollziehbar und reine Schätzungen sind. Kritik daran gibt es seit Jahren. Die Organisation tut sich keinen Gefallen damit, ihre Berichte an solchen unseriösen Schätzungen aufzuhängen und diese Zahl nun sogar zu verdoppeln. Das ist einfach nicht ernstzunehmen.
  2. Superlative wie „die am meisten verfolgte Glaubensgruppe“ erweisen der guten Sache, auf Verfolgung hinzuweisen, einen Bärendienst. Zumal sie in der dargebrachten Form absurd und ebenfalls nicht nachvollziehbar sind. Was mich persönlich auch stört, ist die Fixierung auf Christen. Gut, Open Doors ist ein evangelikales Hilfswerk – geschenkt. Aber gerade dieser Superlativ impliziert doch: „Schaut her, uns Christen geht es am schlechtesten.“ Angebrachter wäre es, darauf hinzuweisen, dass weltweit hunderte Millionen Menschen (das ist eine unseriöse Schätzung meinerseits) aufgrund ihres Glaubens oder der Zugehörigkeit zu einer Minderheit verfolgt werden. Dass eine Erstarkung des Islamischen Staates etwa für Millionen Muslime eine ebenso große Verfolgung (wenn nicht größere) wie für Christen bedeutet, wird durch die einseitige Open-Doors-Sichtweise nämlich unter den Tisch gekehrt. Menschen werden verfolgt, weltweit, warum auch immer – das sollte uns Christen aufschreien lassen!
  3. Was ist „Verfolgung“? Die Definition, die Open Doors anwendet, taugt nicht dazu, von anderen Menschenrechtsverletzungen zu differenzieren. Die „theologische Definition“, die Open Doors anwendet, ist enorm subjektiv. Damit wird der Begriff diffus, weil nicht mehr klar ersichtlich ist, ob jemand tatsächlich aufgrund seines Glaubens „verfolgt“ wird. Ohne ein Experte dafür zu sein, scheint mir der Vorschlag des GAW-Generalsekretärs Haaks hier wesentlich sinnvoller. Er verweist für eine tragkräftigere Abgrenzung von „Verfolgung“ auf die Genfer Flüchtlingskonvention. (Die EU-Richtlinie 2004/83/EG, Artikel 9 stützt sich etwa darauf.) Doch dann müsste Open Doors seine Schätzungen vermutlich deutlich nach unten korrigieren.

 

Veröffentlicht von Fabian M.

Fabian Maysenhölder, Diplom-Theologe und Online-Journalist, ist Herausgeber des Blogs "Theopop". Während seiner Berliner Studienzeit wurde bei ihm in einem Seminar zu dem Thema „Kirche in den elektronischen Medien“ Interesse für diesen Forschungsbereich geweckt, der immer mehr an Bedeutung gewinnt – nicht nur für die kirchliche Öffentlichkeitsarbeit. In seiner Freizeit spielt er Badminton und engagiert sich ehrenamtlich in der Straffälligenhilfe.

3 Antworten auf &‌#8222;200 Millionen verfolgte Christen? „Open Doors“ schlägt wieder zu&‌#8220;

  1. Ich betone: Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass Christen in vielen Ländern aufgrund ihres Glaubens verfolgt werden.

    Das gibt`s auch hier in Deutschland.
    Jeder der Christus nachfolgen möchte wird Verfolgung erleben. Das ist das Kreuz.

  2. Sehr guter Artikel! Ich teile genau diese Kritik. Diese unsägliche Verfolgungs-„Hitparade“ WVI, die mit unklaren Zahlen und Kriterien arbeitet. Ob es Christen besser gehen würde, wenn Sie nur die dritt-, sechst- oder 20stmeist „verfolgte“ Religionsgruppe wäre? Oder ob es Christen besser ginge, wenn stattdessen Muslime oder Mandäer stärker verfolgt würden? Der Verzicht auf jede Differenzierung (Diskriminierung, Vertreibung …) stigmatisiert die Betroffenen, die oft genug darum ringen, in ihren Gesellschaften als gleichberechtigt und wertvoll anerkannt zu werden. OPEN DOORS erweist v.a. den historischen Kirchen (z.B. in Nahost) damit einen Bärendienst.

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