Vor längerer Zeit bereits stieß ich auf einen Artikel mit dem Titel „Religion may not survive the Internet“. Gelesen habe ich ihn erst jetzt, und leider war ich etwas enttäuscht. Ich hatte einen fundierten Artikel zu dem Thema erwartet, denn die Fragestellung hat – so merkwürdig sie im ersten Moment klingt – durchaus interessante Facetten. Leider bleibt die Autorin sehr oberflächlich, sie beschränkt sich auf Argumente wie folgende: Es gäbe im Internet wirklich „coole Wissenschafts-Videos“, gepflegte „Sammlungen lächerlicher Glaubensansichten“ und viele Webseiten, die über die „unterdrückerische, missbrauchende und gewalttätige Seite von Religion“ berichten. Das reicht der Verfasserin offenbar, um der Religion aufgrund des Internets eine schwierige Zukunft zu prophezeien:
Religions have spent eons honing defenses that keep outside information away from insiders. The innermost ring wall is a set of certainties and associated emotions like anxiety and disgust and righteous indignation that block curiosity. The outer wall is a set of behaviors aimed at insulating believers from contradictory evidence and from heretics who are potential transmitters of dangerous ideas. These behaviors range from memorizing sacred texts to wearing distinctive undergarments to killing infidels. Such defenses worked beautifully during humanity’s infancy. But they weren’t really designed for the current information age.
[spoiler title=“Übersetzung“] Religionen haben Äonen damit verbracht, Verteidigungen aufzubauen, die Informationen von außen von ihren Eingeweihten fernhalten. Die innerste Mauer ist eine Zusammenstellung von Sicherheiten und damit verbundenen Emotionen wie Besorgnis, Ekel und selbstgerechter Empörung, die Neugierde verhindern. Die äußere Mauer ist eine Zusammenstellung von Verhaltensweisen, die darauf abzielt, die Gläubigen von widersprüchlichen Befunden abzuschotten und von Häretikern, die potenzielle Übermittler gefährlicher Ideen sind. Diese Verhaltensweisen reichen vom Auswendiglernen Heiliger Texte über das Tragen besonderer Unterwäsche bis hin zum Töten Ungläubiger. Diese Verteidigungsstrategien funktionierten prima, als die Menschheit noch in den Kinderschuhen steckte. Aber sie wurden nicht wirklich für das heutige Informationszeitalter geschaffen. [/spoiler]
Das ist schade. Denn tatsächlich könnte man viel fundierter fragen, ob sich für Religionsgemeinschaften nicht tatsächlich dadurch etwas ändert, dass ihre Glaubens(grund)sätze nun viel einfacher und breiter zur Diskussion gestellt werden können, als dies vor dem Internet-Boom der Fall war. Und umgekehrt die Frage stellen: Ist es, wie von der Autorin (und vielen anderen) behauptet, für das Fortbestehen einer Glaubensgemeinschaft notwendig, sich gegenüber der Außenwelt – bis zu einem gewissen Maße – abzuschotten? Abweichler zu verurteilen und auszugrenzen?
Meinungspluralität: Das Ende des Glaubens?
Der Religionssoziologe Peter L. Berger beschreibt Ähnliches in der Sprache der Soziologen. Er spricht von „Plausibilitätsstrukturen“. Darunter versteht Berger (soziale) Gefüge, innerhalb derer die Weltvorstellungen einzelner identisch sind oder sich zumindest so sehr ähneln, dass sie erhalten bleiben können.[1] In einer pluralistischen Welt (das Internet war für Berger bei diesen Überlegungen noch in weiter Ferne) sei der Mensch zunehmend einem „Imperativ der Wahl“ ausgesetzt: Man habe keine andere Möglichkeit mehr, als (sein Weltbild) zu wählen. Durch das Internet hat sich diese Situation nun freilich weiter verschärft. Die Hürde, auf andere Meinungen – und damit auf Ablehnung seines Weltbildes – zu stoßen, ist geringer geworden. Sei es durch Diskussionen, die im Web anonym und niedrigschwellig stattfinden können, sei es durch kritische Webseiten (oder schlicht: Webseiten, die das jeweilige Weltbild nicht teilen), auf die man zufällig stößt. Wo man früher aktiv die Kommunikation mit anderen Menschen suchen oder sich mit entsprechender Literatur eindecken musste, reichen heute wenige Klicks.
Die Vielfältigkeit der Meinungen, die im Internet unter dem relativistischen Label „alles ist schon irgendwie richtig“ verbreitet wird, sehen tatsächlich Einige als großes Problem für etablierte Religionen. Und ja, es mag eine Herausforderung sein. Der bekannte amerikanische katholische Blogger Brandon Vogt schlägt deshalb vor, eine Art Imprimatur für Internetseiten und Blogs einzuführen. Sprich: Ein Siegel für Blogs und Webseiten, an dem – in diesem Fall für Katholiken – erkennbar ist, ob das, was dort geschrieben steht, auch den offiziellen Ansichten der Religionsgemeinschaft entspricht.
Aber es wäre fatal, dieser „neuen Situation“ so zu begegnen. Denn der Kern der Herausforderung ist nicht, sich von der Pluralität der Meinungen im Internet herauszunehmen und zu sagen: „Die haben sowieso nicht recht“. Im Kern geht es doch vielmehr darum, sich nicht gegen diese Pluralität, sondern in dieser Pluralität zu bewähren. Und das heißt: Die Herausforderung für Religionsgemeinschaften ist keineswegs die Abschottung von anderen Weltbildern.
Argumente statt Dogmen
Die Herausforderung im Internet-Zeitalter lautet vielmehr: Religionsgemeinschaften müssen sich zunehmend aktiv mit anderen Meinungen und mit Kritik auseinanderzusetzen. Den jeweils eigenen Anhängern müssen nicht Dogmen eingetrichtert werden, sondern sie müssen argumentativ überzeugt werden.[2] Es reicht nicht, zu sagen: „So ist das eben.“ Religionsgemeinschaften – und deren Anhänger – müssen lernen, plausibel zu begründen, warum sie das glauben, was sie glauben. Sie müssen sich mit ihrer eigenen Geschichte auseinandersetzen, die sicher nicht immer bunt und heiter ist. Kritik und Ablehnung sind dann keine Gefahr mehr, sondern eine Chance.
Zwei Gedankenstränge dazu:
(1) Während also die Autorin des eingangs genannten Textes das Ende der Religion heraufbeschwört, würde ich eher dazu tendieren, zu sagen: Vielleicht gibt es in dieser Hinsicht einen Wandel der Religionen.[3] Das wäre – auch wenn es von vielen so dargestellt werden mag – keine Veränderung hin zum Schlechten. Vielmehr könnte das langfristig dazu führen, dass zum Beispiel extremistische Positionen immer unbedeutender werden, weil sie argumentativ an ihre Grenzen stoßen, sobald sie sich im globalen Internet-Zirkus bewähren müssen. Doch das gelingt nur, wenn gemäßigte Stimmen aus den jeweils eigenen Reihen laut das Wort ergreifen. Erklären, warum die Welt nicht schwarz-weiß ist, wie es von fundamentalistischen Positionen – egal ob Islam, Christentum oder irgendwelchen anderen Religionen – gerne dargestellt wird.
„Argumente statt Dogmen“ – das könnten dann prägnant die Schlagworte sein, die den Wandel beschreiben, zu dem (nicht zuerst) das Internet die Religionen herausfordert. Argumente müssen sich in Diskussionen bewähren, und sie müssen auch in Diskussionen erarbeitet werden.
(2) Des Weiteren ließe sich fragen, ob überhaupt die obige Situation eintritt. Ob also tatsächlich durch das Internet zwangsläufig die Anhänger einzelner Religionsgemeinschaften, so sie sich denn im WWW bewegen, mit mehr Kritik an ihrem Glauben konfrontiert werden als bisher. Freilich, die Schwellen, Kritik zu begegnen, sind niedriger. Doch das gilt auch andersherum: Kommt man etwa auf Webseiten, deren Inhalt man nicht lesen möchte (weil sie z. B. den eigenen, bequemen Glauben infragestellen), ist man mit einem Klick auch schnell wieder weg. Ohne, dass man sich vor irgendjemandem rechtfertigen muss. Man kann im anonymen Internet unbequemen (An-)Fragen viel leichter ausweichen als im persönlichen Gespräch.
Es ist folglich nicht zwangsläufig so, dass sich etwa ein Christ mit der oben angeführte Sammlung „lächerlicher Glaubensansichten“ oder den Greueltaten der Geschichte des Christentums auseinandersetzen muss, nur weil er sich im Internet bewegt. Auch das Internet ist kein Raum, der bestehende Sozialstrukturen auflöst. Vielmehr finden diese auch im neuen Medium statt, zum Beispiel in entsprechenden Foren. Wer also interessengeleitet sucht, für den ist nichts einfacher, als kritische Anfragen zu umgehen und sich – auch im Internet – nur in seiner jeweiligen „Plausibilitätsstruktur“ zu bewegen.
Hinterfragen? Ja, bitte!
Zu guter Letzt darf man nicht vergessen, dass sich dieser Wandel nicht erst seit dem Aufkommen des Internet vollzieht. Schon immer mussten sich Glaubensgemeinschaften in einer pluralen Welt bewähren; lediglich die Art und Weise mag sich von Zeit zu Zeit ändern. „Argumente statt Dogmen“ galt schon immer dort, wo gemeinsame Glaubensgrundsätze fehlten: in der Diskussion mit Andersdenkenden. Es mag sein, dass durch das Internet mehr Menschen lernen, ihr Weltbild zu hinterfragen. Nicht umsonst versuchen manche Staaten, durch Zensur bestimmter Webseiten ihre Bevölkerung vor Kritik abzuschotten.
Doch wenn Menschen beginnen, zu hinterfragen, was sie glauben – dann ist das eine wünschenswerte Entwicklung. In jeder Hinsicht. Denn letztlich macht es Religionen nicht schwächer, sondern stärker, wenn ihre jeweiligen Anhänger lernen, mit Kritik auf einer argumentativen Ebene vernünftig umzugehen. Es ist also gerade wichtig, auch mal über den Rand seiner „Plausibilitätsstruktur“ hinauszublicken. Sich nicht nur in Kreisen und auf Webseiten, Blogs und in Foren zu bewegen, die das eigene Weltbild stützen. Die Religionsgemeinschaften selbst sollten das unterstützen. Denn schon allein die Frage: „Was aber, wenn wir dadurch Anhänger verlieren?“ würde offenbaren, dass sie es entweder nicht verstehen, ihre Botschaft argumentativ plausibel zu vermitteln. Oder dass sie kein Vertrauen in das haben, was sie glauben (was ein Widerspruch in sich wäre).
Bringt das Internet also das Ende der Religion – wie von der eingangs genannten Autorin suggeriert? Nein. Im Gegenteil: Es ist eine große Chance.
[1] Literaturtipps für interessierte Weiterdenker: Berger, Peter L.: Auf den Spuren der Engel, Herder-Verlag, 1991 (oder andere div. Auflagen); Ders.: Der Zwang zur Häresie, Fischer-Verlag, 1980; Ders./Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Fischer-Verlag, 1999.
[2] Dieser Faktor spielt freilich auch schon von Anfang bei Glaubensgemeinschaften eine Rolle. Ich denke jedoch, dass diese Rolle aufgrund der o.g. Beobachtungen immer wichtiger wird.
[3] Den gibt es sowieso, ich beziehe mich auf den speziellen Punkt aus dem vorherigen Absatz.