Nicht erst jetzt nach diesem komischsten Kantate der Kulturgeschichte, sondern schon davor war mir unsauberer und etwas schiefer Gemeindegesang wichtig und lieb (wer dazu mehr lesen will: hier). Ich finde, er ist das partizipatorischste, was wir im Gottesdienst machen und auch super-reformatorisch. Das Vermischen von Stimmen und die Möglichkeit innerhalb einer gemeinsam aus Vielfalt erzeugten Klanggestalt auch mal abzuweichen und sich auszuprobieren, wenn man sich ein bisschen unter der Führung von der Orgel oder anderen Sängern verstecken und dann aber auch wieder neu hervortreten kann – darin kann man Gemeindesein akustisch ausprobieren.
Das alles traf am Sonntag Kantate auf die neue Wirklichkeit. Einige Gemeinden ließen sich das Singen nicht nehmen. Nicht von den Vorgesetzten. Nicht von den Vorsichtigen. Dabei sind offenbar wirklich viele Todesfälle auf Chorproben gerade auch von Kirchenchören zurückzuführen. Und die perfekt-reinen Vorträge von anderen Solist*innen und Ensembles sind für mich nicht nur deswegen kein Ersatz, weil man nicht mitmachen darf, sondern eben gerade weil sie so verdammt perfekt sind. Ich mag es schmuddelig-gemeindeschief-folklorig. Sodass in jeder Gemeinde die Lieder auch ein bisschen anders falsch gesungen werden und man eine eigene Klang-Identität weiterträgt im Singen.
Die neue Wirklichkeit ohne analogen Gesang
Oder eben gerade jetzt nicht mehr. Denn: Singen trifft auch auf die harten Worte des RKI, die neue Wirklichkeit:
Was uns das Digitale am Singen zeigen kann
Gerade jetzt noch, wo der Gesang im Kirchenraum und gemeinsam nicht erlaubt ist, will ich die Chancen von digitalem Singen mal pushen und betonen. Realistischerweise fühlt es sich gerade so an, als würde dieser Erfahrungsschatz aus Online-Zoom-Chorproben und anderen Videokonferenz-Projekten es nicht in die nächste Runde schaffen. Das fände ich schade, es ist aber umso wahrscheinlich als unstrittig das gemeinsame Live-Singen so wichtig und urprotestantisch ist. Deswegen will ich hier eine Wegmarkierung setzen, wo wir kurz vor und kurz nach Kantate 2020 mal waren. Und ich bin gespannt, wie ich das selbst später wieder lese. Drei Punkte will ich hervorheben. Also wie immer, nicht die Defizite, sondern auch die Chancen medialer Veränderung markieren.
Neues Wissen, Wenn die AI entscheidet, wer singt
Erstens, das Problem – oder, das wäre meine Argumentation: das Interessante – am gemeinsamen Singen bspw. über Zoom ist, dass sich die Software für eine dominante Stimme entscheidet und die anderen dafür ausblendet. Wenn also alle gleichzeitig singen, entscheidet eine Software-Routine, wer zu hören ist – und nicht die Mikrophon-Anlage in der Kirche. Technologie sorgt für eine neue Demokratisierung von tonaler Dominanz einer gemeinsamen Praxis.
Sing like nobody’s watching
Zweitens, viele Menschen, die an Online-Chor-Proben oder Gesangstreffen teilgenommen haben, fühlen, wie komisch das ist, wenn der/die Chorleiter*in oder jemand anders vorsingt, sie selbst aber auf stumm geschaltet in einem vielleicht leeren Raum dann irgendwie doch für sich alleine singen. Und bei weitem nicht alle finden das schlimm. Viele berichten sogar, dass sie sich trauen, jetzt viel mehr und manche zum ersten Mal, richtig laut mitzusingen. Richtig befreit fühlen sie sich. Zugegeben, bei den Gospel-Chor-Online-Zoom-offenen-Sing-Proben, bei denen ich experimentell mal mitgemacht habe, braucht es schon ein bisschen Zeit, um da reinzukommen. Aber es geht. Und es ist ein anderes Singen. Ein Duett mit zwei Stimmen und vielen Mündern, die sich stumm mitbewegen. Was sagt uns das über die normale Gesangspraxis? Es ist Zeit genauer zu schauen, wen wir sonst mit schwierigen oder aufwändigen Gesangsformen eigentlich ausschließen, und zwar schon lange, schon immer und regelmäßig. Junge und alte Menschen, die stimmliche Veränderungen durchmachen, Menschen mit gebrochenen Stimmen u.v.a. Das muss ja nicht so weiter gehen, oder?
Zoom-Droning als inklusives Musicking
Drittens, wie Zoom-Gesang Anstöße zu noch mehr Inklusion geben kann, zeigt das Beispiel des Music Centres der Winchester Cathedral mit einem eigenen ZOOM Peace Choir. Gegenüber vielen Ensemble-Lösungen, bei denen Menschen einzelne Clips aufnehmen und zusammen schneiden hat Prof. June Boyce-Tillman durch Musikmachen (musicking), die Technologie als intrinsischen Bestandteil einbezieht, herausgefordert. Zufall spielt eine Rolle und die Latenz, also die technologische Verzögerung der Geräuschübertragung, die Chorproben sonst so problematisch machen, werden hier zum Bestandteil der Praxis.
Der ZOOM Peace Choir benutzt dafür die Gesangstechnik des Droning, also des dröhnend-summenden Gesangs. Der ist ganz einfach und partizipativ und er zeigt eben ganz besonders, was dazu kommende Technologie an der menschlichen Stimme verändert, wenn sie Teil der Performance wird. Wenn wir sonst in der Kirche Übertragungstechnologien wie Mikrophone etc. benutzen, verstecken wir diese Technik lieber, zumindest in der Landeskirche. Jetzt könnten wir mal mitreflektieren, dass sie eigentlich die akustischen Machtverhältnisse im Gottesdienst bestimmen und die reine Stimme der Profis übertragen und die der Gemeinde ausblenden.
Teilnehmende des ZOOM Peace Choir berichten, dass sie auf ganz neue Weise singen gelernt haben. Sie haben verlernt, was sie über Chorsingen und die Disziplin, die damit einhergeht, für Singen hielten. Sie wurden selbstsicherer in Ihrem Gesang, sie mussten nicht darauf achten, was andere von ihnen hören oder Perfektion abliefern. Ein Teilnehmer schreibt:
Zuerst war es seltsam. Ich musste meiner eigenen Stimme zuhören. Ich dachte, ich werde das wohl nicht hinkriegen, aber ich wurde immer sicherer beim weiteren Singen und dann wollte ich nicht mehr, dass es aufhört. Ich hab selbst mehr improvisiert. Ich fühlte mich verbunden mit der ganzen Welt. Es war eine gute Erfahrung.
Mindestens das Droning als Ersatzpraxis hinter Masken (besser als Nachsummen, was man nicht Singen darf und mit eigenem Praxisbestand und Erfahrungsraum) können wir doch bestimmt in die Praxis mitnehmen, auch wenn die Online-Chöre wieder verschwinden. Oder vielleicht bleiben sie auch – wer weiß. Und der theologische Unterbau fällt auch nicht schwer: Stimmliche Kaputte, die zusammen schief singen, passen besser zur Kirche des verletzten Auferstandenen als reine triumphalistische Reinmusik-Klänge, oder?
Das ist ein schöner, witziger Beitrag! Danke. Lädt ein zum Weiterdenken und die Chancen der neuen digitalen Formate weiter auszuloten…was wir wohl in ein paar Jahren drüber denken werden?